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Reichspropagandaminister Joseph Goebbels beging den Jahreswechsel 1942/43 auf seinem Landsitz am Bogensee nördlich von Berlin. Seine Stimmung war gedrückt. Aufmerksam betrachtete er die Karte von der Ostfront. Er fand, daß die augenblickliche Winterkrise mit der des Vorjahres überhaupt nicht zu vergleichen war, doch tief im Innern wußte er, daß dies eine Selbsttäuschung sei. Seit Kriegsbeginn 1939 ließen ihn Unruhe und Furcht wegen einer möglichen Niederlage nicht mehr los. Er versuchte ihnen durch permanente Selbstüberredung und blindes Vertrauen in den Instinkt Adolf Hitlers zu begegnen, aber die Nachrichten aus Stalingrad durchbrachen jetzt den Kokon des Selbstbetrugs.
Am 4. Januar 1943 notierte er in seinem Tagebuch die Meinung von Fachleuten, daß die Schwierigkeiten im Osten noch größer seien als Ende 1941, was aber "nach meinen sehr sachlichen Überzeugungen in keiner Weise der Fall ist". So sprach der Nichtmilitär sich selber Mut zu, der freilich nicht von Dauer war. Zwei Tage später erreichten ihn Berichte aus dem Oberkommando des Heeres, daß Hitler "eine Kriegsführung betreibe, die auf die Dauer nicht durchzuhalten sei, sehr gelinde ausgedrückt". Diesmal unterließ er jede Widerrede.
Seine Schlußfolgerung war, daß der Krieg an der sogenannten Heimatfront entschlossener geführt werden müsse. "Der radikalste und totalste Krieg ist der kürzeste, und er bringt den entscheidendsten Sieg", schrieb er am Neujahrstag. Die gequälte Übersteigerung des Superlativs kann als Indiz dafür gelten, daß er selber fühlte, wie wenig solche Hoffnungen sich auf Realitäten stützten. Am 21. Januar besuchte er Hitler in der "Wolfsschanze". Während ihres Gespräches wurden immer neue Hiobsbotschaften aus Stalingrad hereingereicht, was ihn in eine psychologisch günstige Position versetzte, um Hitler sein sogenanntes Reorganisationsprogramm für die "totale Kriegsführung" zu erläutern. Das Programm hatte die völlige Umstellung des zivilen Lebens auf den Krieg zum Inhalt, die Hitler bisher abgelehnt hatte, weil er negative Folgen für die Kriegsmoral befürchtete. Inzwischen stimmte er Goebbels Vorschlägen zwar zu, übertrug die Umsetzung zu dessen Enttäuschung aber nicht ihm, sondern den ihm verhaßten Bürokraten.
Am 30. Januar 1943 verzichtete Hitler erstmals darauf, auf der Kundgebung zum Jahrestag der Machtübernahme im Berliner Sportpalast selber aufzutreten. Die nichtssagende "Führerproklamation" wurde von Goebbels verlesen, der seine eigene Rede dazu nutz- te, die Situation an der Ostfront als "ein Alarmsi-gnal zum totalen Krieg, zu dem wir nunmehr fest entschlossen sind", zu deuten. Doch die tiefen Depressionen nach dem Verlust der 6. Armee und der weiterhin unzulängliche Stand der sogenannten Totalisierungsmaßnahmen, den er intern beklagte, zeigten ihm, daß dies nur ein Wunsch war. So unternahm er den Versuch, mit einer dramatischen Rede die politische Initiative an sich zu reißen und indirekt auch Hitler unter Druck zu setzen.
Am 18. Februar 1943 - 23 Tage nachdem Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt Deutschland als einzige Alternative zur bedingungslosen Kapitulation den Sieg gelassen hatten - trat Goebbels vor Tausende Zuhörer im Sportpalast, um ihnen "ein ungeschminktes Bild der Lage" und der "schweren militärischen Belastung" zu zeichnen. Dann zündete er ein fast zwei Stunden langes rhetorisches Feuerwerk: "Stalingrad war und ist der große Alarmruf des Schicksals an die deutsche Nation." Seine Metaphern waren von apokalyptischer Gewalt: "Der Ansturm der Steppe gegen unseren ehrwürdigen Kontinent ist in diesem Jahr mit einer Wucht losgebrochen, die alle menschlichen und geschichtlichen Vorstellungen in den Schatten stellt." Im Falle einer Niederlage drohten "jüdische Liquidationskommandos" einzufallen, und dahinter erhöben sich "der Terror, das Gespenst des Millionenhungers und einer vollkommenen europäischen Anarchie". Der "ehrwürdige Erdteil" würde "in seinen Grundfesten wanken und unter seinen Trümmern das geschichtliche Erbe der abendländischen Menschheit begraben".
Um dies zu verhindern, forderte er ein Ende der "bürgerlichen Zimperlichkeiten" und setzte die Führung unter Druck: "Die breiten arbeitenden Massen unseres Volkes machen der Regierung nicht zum Vorwurf, daß sie zu rücksichtslos, sondern zu rücksichtsvoll vorgeht." "Wir nehmen keine Rücksicht auf Stand und Beruf! Arm und reich und hoch und niedrig müssen in gleicher Weise beansprucht werden." Goebbels fiel in die sozialrevolutionäre Rhetorik seiner Kampfzeit zurück. Der Krieg machte es für ihn notwendig - und schuf dafür die Voraussetzung -, die Klassenschranken zu zerbrechen und die erst ansatzweise realisierte "Volksgemeinschaft" zu vollenden.
Den Schluß bildeten zehn Fragen, deren bekannteste die vierte ist: "Die Engländer behaupten, das deutsche Volk wehrt sich gegen die totalen Kriegsmaßnahmen der Regierung. Es will nicht den totalen Krieg, sagen die Engländer, sondern die Kapitulation! Ich frage Euch: Wollt Ihr den totalen Krieg? Wollt Ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt erst vorstellen können?"
Warum diese Frage Goebbels zufolge nur positiv zu beantworten war, hatte er in derselben Rede bereits ausgeführt: "Die geistige Bedrohung, die der Bolschewis-mus darstellt, ist bekannt. Sie wird auch im Ausland nicht bestritten. Über die geistige Bedrohung hinaus aber stellt er nun für uns und Europa eine unmittelbare militärische Bedrohung dar. Ihr nur mit geistigen Argumenten entgegentreten zu wollen würde wahrscheinlich bei den Kreml-Gewaltigen stürmische Heiterkeit auslösen. Wir sind nicht so dumm und so kurzsichtig, den Kampf gegen den Bolschewismus mit derart unzulänglichen Mitteln auch nur zu versuchen. Wir wollen auch nicht auf uns das Wort angewandt sehen, daß nur die allergrößten Kälber sich ihre Metzger selber wählen. Wir sind entschlossen - ohne Rücksicht darauf, ob die uns umgebende Welt die Notwendigkeit dieses Kampfes einsieht oder nicht. Der totale Krieg ist also das Gebot der Stunde."
Die Rede endet mit den Worten: "Wenn wir je treu und unverbrüchlich an den Sieg geglaubt haben, dann in dieser Stunde der nationalen Besinnung und der inneren Aufrichtung. Wir sehen ihn greifbar nahe vor uns liegen - wir müssen nur zufassen! Wir müssen nur die Entschlußkraft aufbringen, alles seinem Dienste unterzuordnen; das ist das Gebot der Stunde! Und darum lautet von jetzt ab die Parole: Nun, Volk, steh auf - und Sturm, brich los!"
Die Reaktion des Publikums wurde vom "Völkischen Beobachter" so beschrieben: "Die Menge erhebt sich wie ein Mann. Die Begeisterung der Masse entlädt sich in einer Kundgebung nicht dagewesenen Ausmaßes. Vieltausendstimmige Sprechchöre brausen durch die Halle ..." Gewiß, solche Schilderungen gehören ebenfalls zur Goebbels-Propaganda und sind daher mit Vorsicht aufzunehmen. Bis heute wird zum Beispiel kolportiert, der Schauspieler Heinrich George sei vor Begeisterung auf den Stuhl gestiegen und habe wild sein Halstuch geschwenkt. Die Filmaufnahmen jedoch zeigen ihn in ernster, gedrück-ter Stimmung. Andererseits blieb der Rundfunk nach der Rede noch 20 Minuten auf Sendung, um die Zuhörer an den Jubelchören teilhaben zu lassen. Goebbels konstatierte ein "Tohuwabohu von rasender Stimmung" und war sich sicher, eine "totale geistige Mobilmachung" erreicht zu haben. "Ich glaube, der Sportpalast hat noch niemals, auch nicht in der Kampfzeit, solche Szenen erlebt."
Seine Hoffnung auf einen "stillen Staatsstreich" wurde indes schnell enttäuscht. Er erhielt keine neuen Vollmachten, und die ergriffenen Maßnahmen zur inneren Mobilisierung blieben kosmetischer Natur. Die Alliierten blieben unbeeindruckt. Trotzdem ist die Rede legendär geblieben, bis heute. Kaum eine Sendung über das "Dritte Reich", die nicht auch Szenen dieser Veranstaltung enthält.
Die NS-Diktatur, die Goebbels vorschwebte, sollte sich nicht einfach auf Bajonette stützen und - wie in Orwells "1984" - den Gehorsam zombiehafter Befehlsempfänger erzwingen, sondern auf Menschen beruhen, die ihr auch innerlich zustimmen und sich willentlich und wissentlich in den Dienst des Staates stellen. "Der Nationalsozialismus kann deshalb sein Genüge nicht daran finden, nur mit den Lippen bekannt zu werden - man muß ihn mit Händen und mit den Herzen tun. Man muß diese Haltung innerlich angleichen, man muß sie zur eigenen Haltung machen ..." Goebbels paraphrasiert hier den Choral "Nun danket alle Gott". Es ging um eine Art religiöser Ergriffenheit, in deren Zeichen Glaube, Verstand und Handeln zur Einheit verschmolzen.
Solche Wunschvorstellungen wurden während des "Dritten Reiches" in einer Reihe literarischer Utopien kolportiert. In Georg Richters "Reichstag 1975. Eine Vision" geht es um die Amtseinführung des neuen "Meisterbruders" auf der Wartburg in Eisenach. Höhepunkt ist das gemeinsame Gebet, in das sich nicht nur die Gesandten versenken, sondern das ganze Volk, das über den Rundfunk mit der Veranstaltung verbunden ist. Ganz Deutschland verschmilzt zu einem großen, mystischen Volkskörper: "Wo wäre wohl je eine größere Kirche gelebt worden als heute auf der Wartburg! Wartburg! Du Wahrzeichen in Germanien! Auf Dich schauen heute weit über 100 Millionen Menschen und lauschen, was in Deinen Mauern beschlossen wird. Die Radioapparate der ganzen Welt sind auf Dich gerichtet. Darum ist nicht nur im Saale der Wartburg, sondern auch draußen in allen germanischen Landen und bei den befreundeten Völkern das Gefühl der Kirche. Millionen von Menschen sitzen still, in der kleinsten Hütte wie im größten Palast und lauschen, lauschen. Noch hören sie kein Wort. Doch sie wissen, auf der Wartburg ist das Mikrofon angestellt. (...) Das ganze Germanenland ist Kirche geworden."
Die kollektive Ergriffenheit und Geschlossenheit, die Goebbels unmittelbar nach dem 18. Februar 1943 festzustellen glaubte, ist in dieser Vision antizipiert. Für Goebbels war das Radio schließlich ein "Übermittler und Segensspender". Allerdings war er mit der sozialen und geistigen Gegenwart viel zu vertraut, um an den Erfolg eines rück-wärtsgewandten, völkischen Priestertums zu glauben. Ihm schwebte eine nationalsozialistisch engagierte Kunst vor, auch wenn er sie nie stringent zu begründen vermochte. Immerhin sollte sie den "individuellen Freiheitsbegriff" abstreifen, aus "den Kräften des Volkstums" schöpfen und vom "Tempo" und der "Durchschlagskraft" der "aufbauenden Arbeit" im NS-Staat erfüllt sein. Er selber sah sich als Künstler und in der Propaganda eine gleichberechtigte Gattung.
Der Propagandist sei "im wahrsten Sinne des Wortes ein Künstler der Volkspsychologie", ein Kenner und Interpret der "Volksseele". "Weil wir die Sprache des Volkes sprachen, haben wir das Volk erobert. Und nur, wenn wir weiterhin die Sprache des Volkes zu sprechen verstehen, werden wir das Volk auch behalten können." Der Propagandist sei befähigt, den Menschen ihre innersten Interessen zu verdeutlichen und ihnen nahezubringen, daß diese im Nationalsozialismus erfüllbar seien. Auf dem Nürnberger Reichsparteitag 1935 nahm er eine Abgrenzung gegenüber der Reklame vor: "Reklame ist vielleicht erlernbar, die Propaganda aber ist eine Kunst, die man beherrscht oder nicht beherrscht." Propaganda sei eine "schöpferische", "aggressive" und "revolutionäre" Betätigung. Sie sei in der "Kampfzeit" häufig "Bahnbrecherin der Realpolitik" gewesen und habe als "Stoßtrupp vorerst das Terrain erobert", auf dem sich die Realpolitik später abspielte. Auch künftig müsse sie "der Tagespolitik immer um ein halbes Jahr voraus sein".
Interessant ist die verbale Nähe einerseits zu den Reportagen aus der Sowjetunion, die in den 20er Jahren in der kommunistischen Presse Deutschlands zu lesen waren, und anderseits zu den expressionistischen Kunstmanifesten à la Ludwig Rubiners "Der Dichter greift in die Politik".
Von den Parallelen zwischen den nationalsozialistischen und den kommunistischen Methoden auf Parallelen zwischen dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus zu schließen, gilt jedoch nicht erst in der durch den "Kampf gegen Rechts" geprägten deutschen Öffentlichkeit der Gegenwart als "politisch unkorrekt". Dieses zeigen anschaulich die folgenden Worte, die ebenfalls aus Goebbels Sportpalastrede vor 60 Jahren stammen: "Es ärgert uns nicht einmal, wenn unsere Feinde im Ausland behaupten, die Maßnahmen, die wir jetzt zur Totalisierung des Krieges durchführen, kämen denen des Bolschewismus gleich. Scheinheilig erklären sie, daraus müsse man also folgern, daß sich unter diesen Umständen der Kampf gegen den Bolschewismus überhaupt erübrige, denn wir seien ja Bolschewisten. Es geht hier nicht um die Methode, mit der man den Bolschewismus zu Boden schlägt, sondern um das Ziel: nämlich die Beseitigung der Gefahr!" / M. R.
"Totaler Krieg - kürzester Krieg": Das ist die Botschaft der Kundgebung des NSDAP-Gaues Berlin. Analog wird auf anglo-amerikanischer Seite bis zum heutigen Tage argumentiert, wenn in England die Bombardierung deutscher Städte und in den USA der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki damit gerechtfertigt wird, daß es darum gegangen sei, den Krieg zu verkürzen und damit die eigenen Verluste möglichst gering zu halten. |
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