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Der Januar vor 60 Jahren brachte mit der deutschen Niederlage von Stalingrad nicht nur die offensichtliche militärische Kriegswende, sondern auch die entscheidende Weichenstellung für die deutsche Nachkriegsgeschichte. Am 26. Januar 1943 kamen nämlich US-Präsident Franklin D. Roosevelt und Briten-Premier Win-ston Churchill in Casablanca überein, den Krieg gegen die soge- nannten "Achsenmächte" nur mit deren "bedingungsloser Kapitulation" zu beenden. Das bedeu- tete, daß Deutschland, Italien und Japan den Kampf nur um den Preis der militärischen Selbstaufgabe einstellen konnten und sich politisch dem Willen der Sieger zu ergeben hatten. Eine Zukunftsaussicht, die bei den betroffenen Völkern unterschiedliche Reaktionen auslösen mußte.
Während sich in Italien Kräfte regten, die durch einen Sturz Mussolinis und seines faschistische n Regimes einen milderen Kriegsschluß zu erreichen suchten, bewirkte die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation in Deutschland und in Japan eine Versteifung des Widerstandes und damit letztlich eine Verlängerung des Krieges. Denn Goebbels und die japanischen Propagandisten benutzten das unerhörte Übergabeverlangen als willkommenes Zeugnis alliierter Unterwerfungsabsichten und beschworen den Durchhaltewillen ihrer Völker.
Die Militär-Opposition gegen Hitler war über die "Casablanca-Forderung" unglücklich. Sie sah sich durch dieses von den Westmächten geforderte Kriegsende um wesentliche Erfolgsaussichten gebracht, weil sie nach einem gelungenen Sturz Hitlers ihrem Volk auch keinen weniger demütigenden Waffenstillstand versprechen konnte. Wie der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI) vorliegende Dokumente ausweisen, haben Vertrauensleute des deutschen Widerstands monatelang in der Schweiz mit US-amerikanischen Geheimdienstlern um einen akzeptableren Kriegsschluß gerungen, ohne das geringste Zugeständnis zu erreichen. Diese Vergeblichkeit drohte manchen Regime- Gegner in Deutschland mutlos oder für die Durchhalte-Propaganda anfällig zu machen. Man konnte in der Berliner Bendlerstraße nicht ahnen, daß in Washington große Zweifel an der Ernsthaftigkeit eines Putsches gegen Hitler gehegt wurden beziehungsweise die Militär-Opposition bei den Westalliierten im Verdacht stand, sich mit einer Revolte nur geschickt aus der Verantwortung für die bevorstehende Niederlage herauswinden zu wollen.
Statt die angestellten Sondierungen als Hoffnungszeichen für ein baldiges Kriegsende zu deuten und sich wie im Falle Italiens kooperativ zu zeigen, interpretierte man in Washington und in London die deutschen Kontaktaufnahmen als langstrategische Kriegslist der Wehrmachtsgeneralität.
So hatte der britische Lord Vansittart bereits wenige Tage nach der ersten Fühlungnahme der deutschen Widerständler einen bissigen Fünfzeiler über die "Verschwörer-Generale" (the conspiring generals) verfaßt und darin ihren vermeintlichen Versuche, "den Nazis die Schuld für den Krieg zu geben" und selbst insgeheim schon "den nächsten Krieg vorzubereiten", mit den Worten angeprangert:
"Little Hans, in a tight corner,
Wondered what next he could try So to look even littler
He bumped off his Hitler
And said ,What a good boy am I. "
Das heißt auf Deutsch soviel wie: "Klein Hans, in einem engen Eck,/ überlegte, was er als Nächstes versuchen könnte, / so, um noch harmloser auszusehen, / brachte er seinen Hitler um / und sagte: ,Was für ein guter Knabe bin ich doch. "
Als am Abend des 20. Juli 1944 offenkundig wurde, daß Hitler das Attentat in der "Wolfsschanze" überlebt hatte und zum Gegenschlag ausholte, kommentierten die Angloamerikaner das Scheitern des Unternehmens fast mit einer gewissen Erleichterung. Das dokumentiert ein US- Geheimbericht vom 30. Juli 1944. Unter der Überschrift "Das beste Ergebnis des Hitler-,Wunders " ("Best result of the Hitler ,Miracle ") überliefert er die freimütige Einschätzung der Lage Deutschlands und der Alliierten. Danach sprachen "die Leute, welche Deutschland und die Deutschen am besten kennen, über das glückliche Entkommen Hitlers" ("The people who know Germany and Germans best were talking ... about Hitler s lucky escape ) und kamen zu der Überzeugung, daß Hitlers Überleben ein Glücksfall für die Alliierten gewesen sei ("lucky for the Allies"). Und zwar deswegen, weil den "konspirierenden Generälen", die sich gegen Hitler erhoben hätten, danach keine Möglichkeit mehr geboten sei, den verlorenen Krieg allein Hitler anzulasten.
Diese gleichermaßen niederschmetternde wie verständliche Mißdeutung des Attentats vom 20. Juli 1944 fand auch in einer englischen Karikatur ihren Ausdruck. Auf ihr ist unter der Überschrift "Look out for the Phoenix" ein als Friedensengel verkleideter "Good German" zu sehen, der wie ein Phönix aus der Glut des verlorenen Krieges aufsteigt und neben der Palme in der rechten Hand den "Nucleus" für den nächsten Krieg ("Next War") in der Linken hält. Vor dem Hintergrund solcher Unterstellung glaubte Roosevelt die von den deutschen Regime-Gegnern ausgegangenen Signale bedenkenlos ignorieren zu können.
Dagegen mußte er bestimmte Gegenstimmen ernster nehmen. Zu ihnen gehörte als gewichtigster Bedenkenträger Papst Pius XII. Dieser wurde sogleich nach Bekanntwerden der "Unconditional-surrender"-Forderung beim "Persönlichen Repräsentanten des Präsidenten der Vereinigten Staaten bei Seiner Heiligkeit", Botschafter Myron C. Taylor, vorstellig und drückte seine Besorgnis über die zu erwartenden Folgen eines solchen Ansinnens aus. Er wies den Vertreter Roosevelts auf das Ungewöhnliche einer derartigen Unterwerfungsforderung hin und warnte vor ihrem kriegsverlängernden Effekt. Immerhin stünden an der Spitze der gegnerischen Armeen auch Männer mit Ehrgefühl, für die eine totale Unterwerfung unter den Sieger unannehmbar sei; außerdem würden bei der schier unausbleiblichen Verlängerung des Krieges viele Tausende unschuldiger Menschen noch das Leben verlieren. "Und dies auch in der früher friedlichen Heimat, welche nunmehr gleichfalls in das blutige Kampfgeschehen einbezogen wird", wie er nach dem ersten alliierten Bombenangriff auf Rom im Juli 1943 mahnend hinzufügte.
Präsident Roosevelt fühlte sich durch diese Vorhaltungen in Erklärungszwang genommen und verlegte sich in der Rechtfertigung seiner Übergabe-Forderung auf eine Doppelstrategie. Er ließ dem Papst von Taylor versichern, daß die von den Alliierten verlangte "bedingungslose Kapitulation" der "Nazi-Armee" keineswegs gegen das deutsche Volk gerichtet sei oder eine "Entehrung Deutschlands" bezwecke, sondern einzig und allein der Absicht diene, "der Welt zu zeigen, daß die deutsche Wehrmacht nicht unbesiegbar" sei, wie dies viele glaubten. Zugleich wollte er dem Pontifex durch die in Casablanca beschlossene "Unconditional-surrender"-Forderung seine Entschlossenheit signalisieren, nicht "die Fehlannahme von 1918 zu wiederholen, nach welcher der deutsche Soldat im Felde unbesiegt geblieben" sei, woraus sich dann bekanntlich die "gefährliche Dolchstoßlegende" entwickelt habe.
Pius XII. zeigte sich über die Versicherung, das deutsche Volk nicht unterwerfen zu wollen, zwar erleichtert, vermochte jedoch die vorgebrachte Begründung für die "bedingungslose Kapitulation" mit dem angeblichen Verhindern einer neuen "Dolchstoßlegende" nicht vorbehaltlos anzunehmen. Sie erschien ihm wie eine "Schutzbehauptung", hinter welcher andere Absichten als die erklärte Vermeidung einer neuerlichen Geschichtsklitterung steck-ten. Auch die bald nachgeschobene Beteuerung, man wolle mit Hilfe der "Unconditional surrender"-Forderung die "atheistische Seuche des Nazismus" austilgen, bedurfte in den Augen des Papstes noch der Einbeziehung des gleichermaßen atheistischen Bolschewismus, um glaubhaft zu werden.
Mit den weiteren Bombardierungen Roms und anderer italienischer Städte sowie der im Februar 1944 erfolgten Zerstörung der altehrwürdigen Benediktinerabtei auf dem Monte Cassino durch alliierte Kampfflugzeuge geriet die Washingtoner Rechtfertigung der "Bedingungslosen Kapitulations"-Forderung in zunehmend größere moralische Unglaubwürdigkeit.
Wie Mitarbeiter der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt bei ihren jüngsten Archivstudien in den Vereinigten Staaten feststellen konnten, waren die von Pius XII. gehegten Zweifel an der Stimmigkeit der vorgebrachten Begründungen in der Tat berechtigt. Denn Roosevelt lehnte es nicht nur ab, in einer öffentlichen Kundmachung dem deutschen Volk seine guten Absichten zu beteuern, sondern versicherte auch seinem alten Freund, General John Persing, im Ersten Weltkrieg US-amerikanischer General-stabschef und erklärter Deutschenfeind, daß er den Zweiten Weltkrieg so beenden wollte, wie die USA den Ersten nach dem Willen Pershings hätten zu Ende führen sollen, nämlich "bis nach Berlin durchzumarschieren" und ganz Deutschland zu besetzen. Ein "Endsieg"-Gedanke, den auch der Vater von Roosevelts Finanzminister Morgenthau, Henry Morgenthau der Ältere, in einem Interview mit der "New York Times" am 19. September 1919 vertreten hatte, als er davon sprach, daß man Deutschland 1918 hätte zwingen müssen, "to fight to a finish with the United States". Wie im übrigen auch einflußreiche US-Sena-
toren in jenen Jahren gemeint hatten.
Die ideologisch-missionarische Vorstellung vom Kampf der "im Lichte Stehenden" mit den "Mächten der Finsternis" hatte damals schon Einzug in die Außenpolitik der Vereinigten Staaten gehalten. US-Präsident Woodrow Wilson verkörperte im Ersten Weltkrieg die Lichtgestalt und hatte in dem "finsteren Autokraten" Wilhelm II. seinen zu überwindenden Antipoden. Als Schlachtruf "Hang the Kaiser!" kam diese ideologisierte Kriegsführung bei den breiten Massen an und gipfelte bekanntlich im Artikel 2227 des Versailler Friedensvertrags, welcher "Wilhelm II. von Hohenzollern wegen schwerster Verletzung der internationalen Moral und der Heiligkeit der Verträge" von einem "besonderen Gerichtshof" aburteilen lassen wollte. Die Weigerung der holländischen Königin, den unter ihrem Asyl-Schutz stehenden deutschen Ex-Kaiser auszuliefern, ersparte der Welt diesen Schauprozeß.
In den Augen Roosevelts ein selbstverschuldeter Fehlschlag der Sieger des Ersten Weltkriegs, dessen Wiederholung er als Sieger des Zweiten Weltkriegs auf keinen Fall riskieren wollte. Daher mochte er sich mit einem herkömmlichen Waffenstillstand als Kriegsende nicht zufriedengeben, hätten ihm dann doch die verantwortlichen NS-Führer, mit Adolf Hitler an der Spitze, unter Umständen auch wieder entkommen können. Die sollten jedoch dieses Mal ihrer Strafe nicht entgehen. So kam für Roosevelt als Kriegs- schluß nur die "bedingungslose Übergabe" in Frage.
Aber nicht nur als "Lehre aus der Geschichte der verpaßten Gelegenheiten" von 1918/19, sondern auch in Konsequenz vorangegangener Erklärungen Franklin Roosevelts; besonders der Jahre 1941 und 1942. So bezeichnete er am 14. August 1941 in der Atlantik-Erklärung ("Atlantik-Charta") die "vollständige Zerstörung der Nazi-Tyrannei" als Ziel seiner Politik und trug den Mitgliedern des sogenannten "Washington-Paktes" vom 1. Januar 1942 auf, "im gemeinsamen Kampf gegen wilde und brutale Kräfte" den "vollständigen Sieg zu erringen" und "keinen gesonderten Waffenstillstand und keinen Sonderfrieden zu schließen".
Und noch wenige Tage vor seiner Zusammenkunft mit Winston Churchill in Casablanca hatte Präsident Roosevelt in seiner alljährlichen Budget-Botschaft an den amerikanischen Kongreß vom "totalen Krieg" ("total War") gesprochen, den man "hart" zu Ende zu führen gedenke. Sein Botschafter in Spanien, Carton J. Hayes, wurde kurz darauf in einer "Adresse an führende offizielle Persönlichkeiten in Spanien" deutlicher, als er erklärte, daß "die Vereinigten Staaten entschlossen" seien, "weder einen Verhandlungsfrieden noch einen Kompromiß von den Achsenmächten zu akzeptieren, sondern bis zum völligen und endgültigen Sieg zu kämpfen". Da war der Schritt bis zur Verkündung der "Unconditional-surrender"-Forderung von Casablanca nicht mehr allzu groß.
Um sie Wirklichkeit werden zu lassen, mußte folgerichtig die deutsche Wehrmacht völlig besiegt und das Reich vollständig unter Kon- trolle genommen werden. Für eine eigene deutsche Zentralregierung war bei einem solchen Kriegsende naturgemäß kein Platz. Entsprechend wurde die Regierung Dönitz wenige Wochen nach der "bedingungslosen Kapitulation" von den alliierten Siegern abgesetzt und in Gefangenschaft geführt. Ein Vorgang, der gleichfalls in der europäischen Staatengeschichte seinesgleichen suchte - aus Washingtoner Sicht jedoch konsequent erschien. Alfred Schickel |
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