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Staatsministerin Weiss bricht Tabu zum 20. Juli

 
     
 
Der runde Gedenktag an den Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 hat einige bemerkenswerte Beobachtungen zutage gefördert. Das betrifft nicht nur den Umfang und die Intensität der Erinnerung in den Medien und auch in der offiziellen Politik. Die Gedenkveranstaltung am historischen Ort in der Bendlerstraße hatte einen würdigen Ton, und neu war auch die Würdigung durch den sozialdemokratisch
en Bundeskanzler, die Tat Stauffenbergs und die Tatsache des Widerstands, auch des militärischen, zu den wichtigsten Daten deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert zu zählen.

Aufhorchen ließen aber auch Ausführungen von Staatsministerin Weiss bei der Eröffnung einer Ausstellung im Bendlerblock. Frau Weiss warnte hier vor einer ahistorischen Betrachtungsweise, die die Rahmenbedingungen gerade auch des deutschen Widerstandes ignoriert und sie vom scheinbar sicheren Port unserer Gegenwart mit moralischem Überlegenheitsgefühl zur Tat von Reaktionären und Militaristen angesichts der unvermeidlichen Niederlage herabwürdigt. Frau Weiss ließ keinen Zweifel daran, daß uns der Widerstand gegen Hitlers totalitäre Diktatur und vor allem seine Motive heute sehr fremd geworden seien. Über Stauffenbergs letzten Ruf vor dem Hinrichtungspeleton, "Es lebe das heilige Deutschland!", sagte die Ministerin, dieser Ruf bleibe für ihre persönliche Wahrnehmung faszinierend und zentral: "Wir leben heute in einer Zeit, in der wir nichts von Heiligkeit hören können, ohne sofort an Scheinheiligkeit zu denken. Und wir betrachten den Staat Deutschland als eine von jeglicher Metaphysik weit entfernte Vortragsgemeinschaft zum gegenseitigen Interessenausgleich. Stauffenbergs Beschwörung des ,heiligen Deutschland führt uns zu einem völlig anderen Begriff von Nation und Staat, der sowohl den Verschwörern als auch ihren Gegnern noch ganz geläufig war."

Hier trat aus dem Mund eines rot-grünen Regierungsmitglieds ein neuer Ton und ein neues Verstehen des 20. Juli hervor, hatte doch in seinem Verständnis bisher das Urteil überwogen, die Männer des Widerstands seien der Idee des "Staates über den Parteien" verhaftet geblieben, dem gegenüber unser heutiger parlamentarischer Parteienstaat doch einen unbezweifelbaren historischen Fortschritt darstelle. Jetzt macht uns gerade der 20. Juli darauf aufmerksam, daß die schwere Krise, in der sich die zweite deutsche Republik heute befindet, offensichtlich nicht nur eine ökonomische Krise ist, sondern tiefe historische, geistige, kulturelle und moralische Wurzeln hat, weil wir meinten, unsere Überlieferung abwerfen zu können, als man vor 30, 40 Jahren die individuelle "Selbstverwirklichung" als Pforte zur besten aller möglichen politischen und sozialen Welten proklamierte.

In manchen offiziellen Verlautbarungen war auch dieses Jahr wieder der Versuch zu erkennen, den 20. Juli pauschal und bedingungslos für die heutige Ordnung und ein möglichst kritikloses Einverständnis mit unserer heutigen Verfassungswirklichkeit zu vereinnah-

men. Hier wurden die Äußerungen von Staatsministerin Weiss und einige andere doch wohl zu einem Tabubruch. Denn in der Tat kann die Erinnerung an den deutschen Widerstand gegen Hitlers totalitäres System auch den Blick schärfen für manche Defizite der heutigen deutschen Staatlichkeit, die meint, als bloße "Vertragsgemeinschaft zum gegenseitigen Interessenausgleich" historisch-politisch durchzukommen und eine Zukunft zu haben und alle jene Verwerfungserscheinungen tabuisiert, die wir heute hautnah erleben und beklagen.

Frau Weiss war übrigens schon Peter Glotz mit ähnlichen Erkenntnissen vorausgegangen, als er als damaliger Bundesgeschäftsführer der SPD in einem Aufsatz "Über politische Identität" in der Zeitschrift Merkur 1980 feststellte: "Auf die Dauer hält ein gut organisiertes Netz von Waren und Dienstleistungen allein eine Gesellschaft nicht zusammen" und darauf aufmerksam machte, daß die Bundesrepublik ohne Patriotismus und ein Bewußtsein kollektiver Identität früher oder später "historisch auslaufen" müßte.

Das Vermächtnis des 20. Juli 1944 wird erst erfüllt sein, wenn wir es als notwendiges kritisches Kontrastprogramm zur heutigen deutschen Verfaßtheit verstehen und es nach 60 Jahren endlich geistig, kulturell und historisch-politisch ernst zu nehmen beginnen. Die Ausführungen von Frau Weiss sollten dazu ein erster Anstoß sein.

 
     
     
 
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