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Erstaunt und beunruhigt über die deutsche nationale Selbstverachtung sei er, sagte kürzlich der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg, kein konservativer, wohl eher ein linksliberaler Intellektueller. Daß bei den Deutschen einiges nicht in Ordnung ist, daß ihnen etwas fehlt, zeigt auch die erneute Debatte um deutsche Identität und Interessen sowie Patriotismus. Wenn daraus mehr werden soll als nur jene sattsam bekannten unverbindlich-seichten Talkshows, ist freilich ein Nachdenken über den tiefgreifenden kulturrevolutionären Umbruch in Deutschland seit den 60er Jahren notwendig, der zu einer unübersehbaren Erosion unserer historisch-kulturellen Fundamente geführt hat. Die Auseinandersetzung mit den Ursachen und Wurzeln der totalitären Diktatur Hitlers hatte, entgegen den Behauptungen der 68er, schon unmittelbar nach ihrem katastrophischen Untergang begonnen. Schon 1946 erschien zum Beispiel das Buch Eugen Kogons „Der SS-Staat“. Die in den 50er Jahren prägenden Historiker, Hans Rothfels in Tübingen, Gerhard Ritter und dann Arnold Bergstraesser in Freiburg, Franz Schnabel in München und später Heinz-Dietrich Ortlieb in Hamburg, betrieben in Forschung und Lehre nichts anderes. Im Gegensatz zu den Nachkommenden wehrten sie freilich die Leidenschaften des Parteienstreits, der politischen Ressentiments und Propaganda ab und ging es ihnen um die Vollständigkeit der geschichtlichen Tatsachen „in ihrer wechselseitigen Beziehung und Durchdringung“. Rothfels sprach von der „Anmaßung eines Richteramtes, die mit einer gewissen Robustheit des Gewissens und einem guten Teil Selbstgefälligkeit einem Volk allein die Schuld beimessen oder ein Urteil über das Maß seiner moralischen ,Rehabilitierung‘ fällen will“. Hier ging es bei aller entschiedenen Kritik des nationalsozialistischen Totalitarismus doch auch darum, die für unerläßlich erachteten Elemente der nationalen Überlieferung nicht preiszugeben. Der Geschichtspolitik und „Vergangenheitsbewältigung“ seit den 60er Jahren ging es dagegen um ganz anderes. Die NS-Vergangenheit sollte unbedingt „Gegenwart“ bleiben als dunkle Folie für den unaufhaltsamen Fortschritt zu Freiheit und Gleichheit. Zugleich sollte sie auch in die Vergangenheit hinein verlängert werden: zu Bismarck, zum preußischen angeblichen Obrigkeitsstaat, zu Friedrich dem Großen und bis zur „Gehorsamspredigt“ Martin Luthers, um nicht nur die nationalsozialistischen Wurzeln auszureißen, sondern deutsche Geschichte und Tradition insgesamt umzupflügen für die tabula rasa einer sozialistischen Zukunftsgesellschaft. Zielpunkt war die endgültige Überwindung der angeblich deutschen „autoritären Persönlichkeit“ durch den „neuen Menschen“ der neomarxistischen Zukunft, wie sie Theodor W. Adorno der begierig lauschenden Studentenbewegung verkündete. Und so durfte sich niemand wundern, wenn ein bestimmtes Publikum, etwa in deutschen Universitätsstädten, Daniel Goldhagens Thesen von der antisemitisch verdorbenen deutschen Genetik und den „willigen Vollstreckern“ Hitlers frenetisch und kritiklos feierte. Es drängte sich förmlich die Erinnerung an Leo Trotzki auf, der 1917 seine politischen Gegner mitsamt allem historisch Gewachsenen bekanntermaßen „auf den Müllhaufen der Geschichte“ hatte werfen wollen. In der Tat erinnerte auch vieles in dieser 68er Kulturrevolution an Hitlers „zynische Mißachtung geronnener historischer Strukturen“ und an den „ahistorischen Grundzug seines chiliastischen Geschichtsverständnisses“ (Hans Mommsen). Das Ergebnis dieser Umerziehung durch die Geschichtspolitik der 68er Kulturrevolution war, daß sich die Deutschen nun ihre 1.000jährige Geschichte verstellen ließen durch den braunen Koloß der NS-Zeit, daß man die deutsche Geschichte gleichsam eindampfte auf jene berüchtigten zwölf Jahre, wenn nicht gleich gar nur auf den Holocaust. Das war nicht mehr reale Geschichte, sondern eine extreme Geschichtsmythologie als Herrschaftsinstrument. Und die weitere Folge war, daß Deutschland und die Deutschen zu jener „Canossarepublik“ wurden, wie sie der Präsident Estlands, Lennart Meri, bei seiner Rede zur deutschen Einheit am 3. Oktober 1995 in Berlin nannte, eine Republik, in der „rund um die Uhr eine intellektuelle Selbstverachtung praktiziert“ wird, wie der den Deutschen wohlwollende Präsident hinzufügte, in einem Klima, in dem „die Deutschen ihre eigene Geschichte so tabuisieren, daß es enorm schwierig ist, über das Unrecht zu publizieren und zu diskutieren, das Deutschen angetan wurde, ohne schief angesehen zu werden – aber nicht von Esten und Finnen, sondern von Deutschen selbst“. Die vorausgegangene Geschichtsberaubung und einseitig „antifaschistische“ Geschichtsmythologie reduzierte die Deutschen und ihre sogenannten Eliten auf eine allen Einflüssen gegenüber willfährige „Bevölkerung“, der man heute selbst die gegen ihren Willen und ihre Interessen stattfindende Masseneinwanderung als „Bereicherung“ und die multikulturelle Gesellschaft als die eigentliche Demokratie für „alle Menschen“ zu preisen wagen kann. Wir sind damit in eine neue Phase der Kulturrevolution eingetreten, die die totalitäre Idee des „neuen Menschen“ und einer „neuen Gesellschaft“ in die Gewänder der Globalisierung hüllt. Im Bündnis der turbokapitalistischen Chicago Boys mit den „antifaschistischen“ Jakobinern von 1968 wird die multikulturelle Weltgesellschaft zur neuen großen Utopie, der die Zivilreligion des „Antirassismus“ als verbindliches Dogma und als massives Sanktionsinstrument zur Seite tritt, insgesamt ein neuer politischer Messianismus mit den bekannten totalitären Trends, wie sie Hans Freyer einst als die Machbarkeit der Sachen, die Organisierbarkeit der Arbeit, die Zivilisierbarkeit des Menschen und die Vollendbarkeit der Geschichte gültig beschrieb. Dieser universalistische Anspruch wird zum Todfeind der wahren Freiheit, die nur plural sein kann, zum Feind aller wirklichen Vielfalt und der gewachsenen Eigengestalt der Kulturen, Religionen, Ethnien und er dient den herrschenden Kommandohöhen in Wirtschaft, Politik, Kultur, Medien zur, freilich durchsichtigen, Legitimation für weltweite Migrationen und Einwanderungen nach den Maßstäben ihrer strategischen Interessen. Mit untrüglichem Instinkt hat Helmut Schmidt vor kurzem diese Einwanderungspolitik das „Lieblingskind der privilegierten politischen und kulturellen Klassen“ genannt, die ihre Multikulti-Utopie zu Lasten und auf Kosten der breiten Schichten der eigenen Bevölkerung auf Biegen und Brechen durchzusetzen versuchen. Es wäre an der Zeit, angesichts dieser für die Menschheit bedrohlichen Lage wieder einmal Max Webers klassisch gewordenen Vortrag „Der Beruf zur Politik“ zur Kenntnis zu nehmen, den der große Soziologe im Januar 1919 inmitten der damaligen Umbruchsituation hielt und in dem er die beiden Weisen politischen Denkens und Handelns umriß: Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Der Gesinnungsethiker, so sagte Weber dort, geht, von der Güte und Vollkommenheit des Menschen und der Welt aus; als „ethischer Rationalist“ könne er die ethische Irrationalität der Welt nicht ertragen und er fühle sich verantwortlich dafür, „daß die Flamme der reinen Gesinnung, die Flamme zum Beispiel des Protestes gegen die Ungerechtigkeit der sozialen Ordnung, nicht erlischt“. Aber eben der Gesinnungsethiker könne rasch umschlagen in den chiliastischen Propheten, der soeben noch „Liebe gegen Gewalt“ predigte, um im nächsten Augenblick zur Gewalt aufzurufen, die dann natürlich die letzte Gewalt sein soll zur endgültigen Vernichtung aller Gewalt. Der verantwortungsethisch Handelnde weiß hingegen, „daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat“ und er rechnet mit den durchschnittlichen Defekten der Menschen, mit ihrem Mangel an Vollkommenheit, Güte und Rationalität. Wird Gesinnungsethik in der Politik vorwiegend getragen von Wünschen, Wünschbarkeiten und Idealen, von der Utopie, so wird Verantwortungsethik geprägt von Wirklichkeitssinn, von den realen Interessen der Betroffenen und der Akteure, im internationalen Bereich von der „Korrelation der Kräfte“, die zu kalkulieren die zentrale Aufgabe ist, um dann auch, soweit menschenmöglich, die voraussehbaren Folgen der Entscheidungen kalkulieren zu können. Politische Verantwortungsethik denkt und handelt daher auch stets geschichtlich, in der Verantwortung von denen, die vor uns waren, und vor denen, die nach uns kommen. Da die politischen Klassen unserer Tage von einer atemberaubenden Geschichtsunkenntnis gekennzeichnet sind, hat ihr Geschichtsverlust jenen politischen Realitätsverlust zur Folge, den wir als beängstigendes Faktum am Beginn des neuen Jahrhunderts konstatieren müssen. Gerade die heutige Einwanderungspolitik – besonders in Deutschland – wird zum klassischen Beleg des Geschichts- und Verantwortungsverlusts in den Führungsklassen, des gravierenden Unvermögens, langfristige Perspektiven überhaupt zu erkennen und durchzuhalten. Sie werden verdeckt durch Kurzatmigkeit und Augenblicksentscheidungen, Medienabhängigkeit und das Schielen nach den rasch wechselnden Stimmungslagen der Massen bis hin zu ihrem „Nach uns die Sintflut“. Gerade in der heutigen deutschen Situation kann nur ein Paradigmenwechsel helfen, nicht zuletzt in der Ausländer- und Einwanderungspolitik. Das beginnt – schwierig genug nach dem kulturrevolutionären Prozeß der letzten Jahrzehnte – mit dem kollektiven Bewußtsein und der Gestimmtheit in der Gesellschaft selbst, ihrem Geschichtsverlust und der daraus rührenden Selbstverachtung bis hin zu neuroseartigem Kollektivschuldbewußtsein, das die Kräfte von außen geradezu ansaugen muß. Hier ist ernsthafte Vergegenwärtigung der eigenen Identität, die aus der kritisch angeeigneten eigenen Geschichte zu gewinnen ist, und den daraus abzuleitenden eigenen Interessen gewissermaßen der Elementarkurs für den erforderlichen Paradigmenwechsel. Geboten ist damit vor allem eine gründliche Aufarbeitung der zurück-liegenden 30 bis 40 Jahre der deutschen Kulturrevolution, ihrer Ursachen und Folgen mit dem Ziel, wieder zu einer relativen Normalität der Deutschen als Nation unter Nationen zu finden, zu einem neuen Gleichgewicht, einer Mittellage zwischen „Machtversessenheit und Machvergessenheit“ – gewiß mehr Konrad Adenauer, Helmut Schmidt und Helmut Kohl (aber nicht mit seiner Innenpolitik) als Schröder und Fischer, insgesamt eine geschichtsgestützte Realpolitik, die der gesinnungsethischen Geschichts- und Nationsvergessenheit entgegentritt, die die Deutschen nach dem Abgang Konrad Adenauers so verhängnisvoll prägte und in die Irre führte. Um aus den Fehlwegen und Sackgassen, in die die Kulturrevolution seit 1968 die deutsche Gesellschaft und Politik geführt hat, herauszukommen, bedarf es einer gründlichen Kenntnis und Erkenntnis der Ursachen dieser Entwicklung. Es erscheint dringend notwendig, der kulturell-politischen Hegemonie der 68er Bewegung entschiedener als bisher entgegenzutreten, um anstelle der gesinnungsethischen Utopie mit ihrer verbreiteten Nicht-Kalkulation der Folgen einer verantwortungsethischen, an der Wirklichkeit orientierten Politik im Inneren wie nach außen wieder Raum zu schaffen. Die Einwanderungs- und Ausländerpolitik wird hier, ob man will oder nicht, zum wohl wichtigsten Prüfstein. Und das eine ist sicher: Ohne Mut wird es dabei nicht gehen. Die neudeutsche Neigung zum Frieden um jeden Preis, zum Wegsehen, zur Konfliktvermeidung, zum Gutmenschentum, koste es was es wolle, bietet hier keinen verläßlichen Kompaß und erzeugt gerade die Konflikte, die das Denken und Handeln nur für heute und für den Augenblick vermeiden will, die es aber um so sicherer und verhängnisvoller auf längere Sicht gerade herbeiruft. Verantwortungsethische Politik ist vor allem deshalb realistischer und humaner als gesinnungsethische Kurzsichtigkeit, weil sie herannahende Konflikte rechtzeitig sieht und zu entschärfen sucht, ehe sie sich zu unlösbaren Katastrophen zusammenballen. Eben diese Wetterwand zieht aber, allen Vernünftigen sichtbar, heute mit der gegenwärtigen Politik der ungebremsten Zuwanderung nach Europa und Deutschland herauf. Sie zu ignorieren ist das schlimmste Signal der Verantwortungslosigkeit der Volks- und Realitätsferne heutiger Politik. Die eigenen Opfer werden verdrängt: Gedenkplatte an den Gräbern der Gedenkstätte für Opfer des Speziallagers Jamlitz, das 1945 von der Roten Armee auf dem Gelände des vormaligen KZ Lieberose nördlich von Cottbus als Flüchtlings- und Internierungslager genutzt wurde. In dem Lager verloren ab 1945 weit über 3.000 Menschen ihr Leben. |
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