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Ein russischer Schriftsteller reist nach Deutschland und entdeckt die Sowjetunion. Auf diese Formel kann man die Eindrücke bringen, die Vladimir Sorokin in einem Aufsatz für die Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter schildert. Sorokin ist kein Niemand. Er wurde 1952 in Moskau geboren und gilt als Tabubrecher und Provokateur, aber auch als glänzender Autor. Die am 23. September zum ersten Mal erscheinende Literat urzeitschrift Der Freund, von Christian Kracht verantwortet und vom Axel-Springer-Verlag herausgegeben, zählt Sorokin zu ihren Autoren. Ausgangspunkt von Sorokins Essay mit dem Titel "Unter der Linde" ist ein Besuch in Japan. Der Autor geht in ein japanisches Bahnhofscafé namens "Linde", wo er mit klischeehaft deutschem Interieur und "typisch" deutschen Gerichten konfrontiert wird. Bei einer freundlichen Kellnerin - hieran sieht man schon, daß die Szene nicht in der Dienstleistungswüste Deutschland spielt - ordert er Kaffee und Apfelstrudel und stellt beim Genuß verwundert fest: "Ich koste. Und merke, daß der Kaffee und der Apfelstrudel hier besser schmecken als etwa im Berliner Europa-Center. Oder im Café Einstein. Oder im Hamburger Literaturhaus."
Plötzlich kommt ihm die Frage, warum in Deutschland seit der Wiedervereinigung alles schlechter geworden sei. Vor 1990 sei es im Westen Deutschlands und in West-Berlin noch viel spannender gewesen. Und heute: "Berlin atmet muffige kulturelle Luft, von der man nur Kopfschmerzen kriegt und das Gähnen. Früher war es in Berlin interessant. Ende der 80er fand ich s in Berlin viel interessanter als in Paris. Jetzt will man dort wie in einer kleinen Provinzstadt nur Bier trinken, einkaufen und schlafen." Deutschland - so Sorokins Eindruck - schlafe einen "erdrückenden Schlaf ohne jeden Ausweg". Als Deutschland noch geteilt war, hätten die Westdeutschen alles Böse auf die DDR projiziert. in den neuen Ländern sei das Unterbewußtsein der Bundesrepublik gewesen: "Dorthin, in diese Fäkaliengrube namens Deutsche Demokratische Republik, wurden aus dem Westen alle typischen deutschen Ängste und Alpträume weggedrängt. Die Westdeutschen fühlten sich angesichts der DDR selbstbewußter. Alle deutschen Sünden, alles Häßliche im deutschen Charakter, existierte nur jenseits der Mauer, hinter dem Stacheldraht, im Mündungsfeuer unsympathischer ostdeutscher Grenzer."
Das neue Deutschland habe die ostdeutsche Kanalisation und damit das innere Gleichgewicht verloren. Das Gesicht des heutigen Deutschlands ist mürrisch besorgt; so stellt es sich zumindest Sorokin dar. Es herrscht das Kartell des Mittelmaßes: In der Politik, in den Führungsetagen der großen deutschen Unternehmen, in der Bildung, in der Kunst, im Sport, in Film und Literatur. Sorokin fühlt sich zurückversetzt in Sowjetzeiten: "Im heutigen Deutschland treffe ich erstaunt auf immer mehr Sowjetisches, das ich seit der Kindheit kenne. Die Deutschen haben plötzlich typisch sowjetische sozialistische Gesten und Bewegungen. Aristokratismus, Privatheit und Feingefühl sind passé. Die Gewöhnung am gewöhnlichen Durchschnittsmenschen wächst, die Minimalisierung sozialer und kultureller Ansprüche nimmt täglich zu. Die ritualisierte deutsche Bürokratie wird zur Bürokratie von sozialistischer Tönung. Die bürgerlichen Rituale werden vom kollektivistischen Funktionalismus verdrängt, der anscheinend zur Grundethik der deutschen Gesellschaft wurde."
Hauptverursacher der gesamtdeutschen Misere: Die "vergreist verbürgerlichten 68er Rebellen". Diese Generation habe sich alle wichtigen Posten unter den Nagel gerissen und bekämpfe nun alles mit großer Entschiedenheit und Intoleranz, was den eigenen Anschauungen widerspreche. Die ehemaligen Straßenkämpfer und Politrebellen, die es sich mittlerweile in den Vorstandssesseln von Politik, Wirtschaft und Kultur bequem gemacht haben, sähen "Kultur nicht als Ziel, sondern als Mittel der gesellschaftspolitischen Manipulationen an". Sorokins Urteil fällt gnadenlos aus: "Es gab für sie niemals eine freie Kunst, eine Kunst fernab von Politik und Ideologie. Mit ganzer Seele hassen und verachten sie das Elitäre in der Kultur. In diesem Sinne sind die deutschen 68er die legitimen Kinder Lenins und Stalins, die für die ‚Kunst für das Volk stritten und gegen ‚L art pour l art . Die Früchte der Kulturpolitik dieser 68er sind offensichtlich: Langeweile und Routine." Der russische Beobachter findet die deutschen Zeitungen "sterbenslangweilig", die hiesigen Filme "öde" und das deutsche Fernsehen "zum Einschlafen". Das Fazit seiner Deutschlandreise: "Der Sieg des Durchschnittsmenschen in der Kultur ist der Sieg der Langeweile. Die Langeweile ist der Tod der Kultur." Was für die Kultur gilt, läßt sich auch auf andere Bereiche übertragen. Die Mentalität breiter Bevölkerungsteile sei ebenfalls von Mittelmäßigkeit geprägt, so die Klage derer, die sich von Deutschlands Wirtschaft und Gesellschaft Dynamik erhoffen.
"Wir erleben das Diktat des Durchschnitts", kritisiert Michael Müller, Geschäftsführer der a & o aftersales & onsite services GmbH in Neuss und Wirtschaftssenator im Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW). "Wir leisten uns Scheindebatten über Ausbildungsplatzabgaben, verteuern die Energie, verteufeln zukunftsträchtige Technologien und versuchen, mit pharisäerhaften Patriotismusdebatten den Status quo unseres überteuerten Sozialstaates zu verteidigen. Unsere Hochschullandschaft verlangt nicht nach Juniorprofessoren, sondern nach einer Generalinventur. Wir sitzen auf einer tickenden Zeitbombe und verplempern wertvolle Zeit bei der Umsetzung von überfälligen Reformen. Vor 15 Jahren hätten wir einen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Aufbruch wagen sollen. Die Euphorie der Einheit war da. Diese Stimmung hätten wir nutzen sollen, um Deutschland in Ost wie West umfassend zu modernisieren. Statt dessen haben wir den Arbeitsmarkt der neuen Länder mit den bürokratischen Auswüchsen der alten Bundesrepublik zubetoniert. Jetzt demonstrieren viele Ostdeutsche gegen Hartz IV, während die Westdeutschen über angeblich undankbare ‚Ossis klagen", so der mittelständische Unternehmer. Müller wendet sich aber gegen Untergangsstimmungen und hält Pauschalurteile wie die von Sorokin für stark überzogen. Wenn man Unternehmer und Arbeitnehmer von gleichsam sozialistischer Reglementierungswut verschone, würden wie von selbst neue Kräfte frei, die Deutschland wieder nach vorn bringen. In jüngsten politischen Vorhaben wie der Bürgerversicherung sieht Müller Anzeichen, daß sich Mittelmaß wie Mehltau aufs Land legen könnte. "Wenn man alle gleich macht, macht man es niemandem recht. Wir sollten uns an erfolgreichen Gesellschaften ausrichten und nicht längst gescheiterte sozialistische Experimente kopieren", so die Mahnung des Neusser Unternehmers.
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