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Obwohl hierzulande gleichsam eine Erinnerungswelle der anderen auf dem Fuße folgt, klafft doch bei den meisten deutschen Zeitgenossen über ein bestimmtes geschichtliches Ereignis eine schier unglaubliche Kenntnislücke: über die Vertreibung von über 15 Millionen Landsleuten zwischen 1945 und 1947. Die dabei zu Tode gekommenen Millionen finden auch nur selten historiographische Würdigung und verschwinden immer mehr in der Summe der "Opfer von Krieg und Verfolgung", der man pauschal am Volkstrauertag gedenkt.
Die staatlichen politischen Treuhänder zeigen nicht nur Desinteresse an solcher Vergangenheitspflege, sie koppeln diesen geschichtlichen Zeitraum geradezu von der Gegenwart ab und ziehen den ansonsten streng verpönten "Schlußstrich".
Gegen solche Geschichts vergessenheit und nationale Indifferenz stellt sich das hier anzuzeigende Buch von Heinz Nawratil; ein fast hoffnungsloses Unterfangen, möchte man meinen. Der Autor, renommierter Jurist sudetendeutscher Herkunft und durch profunde zeitgeschichtliche Arbeiten in der Fachwelt anerkannt, bringt das Kunststück fertig, diese Herkulesaufgabe zu bewältigen. Klug bereitet er den Stoff auf und gliedert das "letzte Kapitel unbewältigter Vergangenheit", wie er die Deutschen-Vertreibung nach Kriegsende zutreffend nennt, in drei Hauptteile: "Tatbestand", "Motive" und "Bewältigung".
Die Vertreibung geschah nach jahrhundertelanger Nachbarschaft in Mittel- und Osteuropa und hehren Versicherungen der Alliierten vor der Welt, daß die "Umsiedlung der deutschen Bevölkerung" in "humaner Weise" durchgeführt werde. Massendeportationen, blutige Ausschreitungen und Todesmärsche waren die Wirklichkeit und bestimmten das Geschehen zwischen Ostdeutschland und der Batschka.
Was die Sieger nachmalig vor ihrem Nürnberger Tribunal als Verbrechen anprangerten und hart bestraften, begingen Angehörige ihrer Verbündeten zur gleichen Zeit an den wehrlosen Deutschen auf dem Balkan, in der Tschechoslowakei und jenseits von Oder und westlicher Neiße. Die Namen Nemmersdorf, Lamsdorf, Aussig, Brünn und Kikinda sind den Überlebenden Synonyme für grauenhafte Untaten den nachgeborenen Zeitgenossen für gewöhnlich aber nicht einmal als geographische Orte ein Begriff. Nawratil ruft sie in Gestalt von dokumentierten Berichten in Erinnerung und überläßt es der Seelenkraft des Lesers, sich die geschilderten Scheußlichkeiten bis zum Ende zu vergegenwärtigen. Die Dokumente 12 bis 15 a stehen für diese Singularität im besonderen Maße.
Daß sich der Autor aber in solchen Schilderungen nicht erschöpft, sondern um die Aufhellung der Motive müht, merkt man nach jedem seiner wiedergegebenen Berichte. Auch widerstrebt es ihm, durch die Beschreibung menschlicher Sadismen Eindruck zu machen. Schon gar nicht will er mit seinem "Schwarzbuch" irgendein Land anschwärzen oder bestimmte Völker stigmatisieren der öffentliche Umgang mit und unter seinen Landsleuten ist ihm ein warnendes Beispiel vielmehr geht es ihm erklärtermaßen darum, durch die dokumentierte Vergegenwärtigung der Deutschen-Vertreibung das folgenschwere Fehlverhalten der damals Verantwortlichen aufzuzeigen und zugleich deutlich zu machen, daß ein "Schlußstrich" unter dieses "letzte Kapitel unbewältigter Vergangenheit" nur weitere Gewaltpolitiker dazu verführen muß, ethnische Probleme ähnlich blutig zu lösen. Eine Sorge, die durch die jüngsten Vorgänge auf dem Balkan mehr als berechtigt erscheint und keine opportunistische Abkehr von diesem Zeitabschnitt der jüngsten Geschichte duldet.
Heinz Nawratil trieb noch ein weiteres Anliegen ans Schreibpult. Er verdeutlicht es mittelbar durch die Wiedergabe erschütternder Tagebuchnotizen des Geistlichen eines kommunistischen Konzentrationslagers. Diese überliefern nach dem Eintrag des 4500. Todesfalles, daß die auf den Gräbern der umgekommenen Deutschen aufgestellten Kreuze herausgerissen und zum Brennholz geworfen und die Grabhügel dem Erdboden gleichgemacht worden seien. In diesem pietätlosen Tun eine Parallele zum verbreiteten Verdrängen der Deutschen-Vertreibung erblickend, möchte er mit seinem Buch "dazu beitragen, die Grabkreuze wieder aufzurichten und den Toten endlich die verdiente letzte Ehre zu erweisen".
Nawratil geht den Ursachen für das große Informationsdefizit nach, das hierzulande immerhin das Land der Opfer! über die Vertreibung von über 15 Millionen Deutschen herrscht. Er stößt dabei auf unterschiedliche Gründe und Umstände. Sie reichen vom öffentlichen Desinteresse der deutschen Massenmedien bis zu offiziösen Distanzierungen der politischen Gewaltenträger von der moralisch-rechtlichen Aufarbeitung der Vertreibungsverbrechen.
Heinz Nawratil führt deprimierende Beispiele für diese entsolidarisierenden Nachlässigkeiten der Regierenden an; etwa die Ablehnung von amtlicher Rechtshilfe bei der Verfolgung vom Vertreibungsverbrechen oder die jahrelange Nichtveröffentlichung einer einschlägigen Dokumentation des Bundesarchivs. Neuerdings wäre gleichsam als Gipfel solcher Obhutsverletzung noch die jüngste "Schlußstrich"-Bemerkung des amtierenden Bundeskanzlers hinzugekommen und hätte das Maß der Vernachlässigungen voll gemacht. Denn mit der Erklärung, daß die "aktuellen gegenseitigen Beziehungen nicht durch Forderungen aus der Vergangenheit belastet werden" sollen, läßt man die Vertriebenen mit dem Verlangen nach Wiedergutmachung des ihnen angetanen Unrechts allein stehen. Private Klagen um Erstattung des konfiszierten Eigentums stünden den Vertriebenen schließlich frei, sucht man sich nachträglich von Schuld freizusprechen. Als ob man nicht wüßte, daß Prag die totale Enteignung der Sudetendeutschen als "legitimen Akt" betrachtet und mit der deutschen "Kollektivverantwortung" begründet. Und das alles vor dem Hintergrund der vielgepriesenen "Deutsch-tschechischen Versöhnungserklärung" von 1997/98, in welcher die deutsche Seite die tschechische "Rechtsauffassung" ausdrücklich "respektiert".
Der promovierte Jurist Nawratil nimmt auf diese Tatsachen und Unzumutbarkeiten Bezug und weist mit bitterer Ironie auf die Tatsache hin, "daß sich zur gleichen Zeit in Den Haag Serben vor Gericht verantworten müssen, die 1992 bis 1995 in Bosnien Gleiches getan haben wie viele Tschechen 1945 und 1946 in Böhmen", um mit dem biblischen Spruch zu kommentieren: "Zweierlei Gewicht und zweierlei Maß, beides ist dem Herrn ein Greuel".
Bei solcherlei "Aufarbeitung" der Geschichte verwundert es nicht, daß man mit Nawratil die Deutschen-Vertreibung auch über 50 Jahre danach noch einen "unbekannten Völkermord" nennen muß.
Auf der Spurensuche nach den Hintergründen derartiger geschichtlicher Selbstvergessenheit der Deutschen fördert der Autor so manche Besonderheit zutage, die der Zeitgenosse fast nur hierzulande antreffen konnte. Sie beginnen bei der Ausnahme-Situation der totalen Niederlage 1945 und reichen bis zur nationalen Verinnerlichung schier aller erhobenen Anklagen und Schuldzuweisungen der einstigen Gegner. Sie gehen mittlerweile so weit, daß man sogar Ausländer zurechtweist, wenn sie die Deutschen von einem übertriebenen Schuldkomplex lösen wollen. Nawratil erinnert in diesem Zusammenhang an US-Präsident Reagans Ermunterung an die Deutschen, sich nicht von Kollektivschuldtönen niederdrücken zu lassen, zumal sich "die Mehrheit nicht mehr an den Weltkrieg entsinnen könne".
Prompt fuhr ihm ein leitender Bediensteter des "Deutschen Informationszentrums" über den Mund und spielte den Appell Reagans mit der Bemerkung herunter, "der Präsident habe sich von Emotionen hinreißen lassen". Als ob der amerikanische Staatschef eines deutschen Vormunds bedurft und nicht gewußt hätte, was er gesagt habe. Deutsche Reaktionen auf ausländische Fairneß, die für viele krankhaft starre Züge annehmen. Im britischen Oberhaus sprach man angesichts solchen Verhaltens der Deutschen von der "Sucht, sich in Selbstbeschuldigungen zu suhlen". Die gerade laufende Fernsehserie über "Unser Jahrhundert" liefert geradezu ein Paradebeispiel für diesen absonderlichen Hang zur nationalen Selbstbezichtigung. Dächte man noch in überholten Propaganda-Kategorien, hätten sich die einstigen Kriegsgegner keine besseren Exkulpatoren für ihre Fehler und Kriegsrechtsverletzungen wünschen können. Da wurde selbst der Terrorangriff auf Dresden zur menschenfreundlichen "Kriegsverkürzungsaktion" und erschien die ausgebombte Zivilbevölkerung am Schluß fast selbst schuld am erlittenen Schicksal. Nawratil macht einen "Wegbegleiter" dieser wunderlichen "Vergangenheitsbewältiger" aus, die auch die Nachkriegsverbrechen noch dem Volk der Opfer zurechnen: den Redner zum 8. Mai 1985, der seinen Landsleuten am 40. Jahrestag des Kriegsendes klarmachte: "
wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jeder Gewaltherrschaft, die zum Kriege führte." Der Autor konstatiert scharfsichtig, daß diese Geschichtsdeutung ganz bestimmten Ideologen hierzulande auffallend gut gefiel und als epochale Erkenntnis alsbald kanonisiert wurde. Daß der damalige bayerische Ministerpräsident Strauß eine ungleich bemerkenswertere Rede zum gleichen Anlaß hielt, ging im allgemeinen Zeitgeiststrom unter.
Bleibt die Frage, ob es gleichsam "deutsches Schicksal" ist, Zerknirschungsmentalität zu haben und jede politische Chance als von vornherein verbotene Versuchung ablehnen zu müssen.
Heinz Nawratil greift sie in seinem abschließenden "Ausblick" auf und exemplifiziert seine Antwort an Schicksal und gebotenen Möglichkeiten Ostdeutschlands, die sich in den frühen neunziger Jahren erschlossen hatten. Da stand nach seinen Informationen der Rückkauf des nördlichen Ostdeutschlands für Deutschland im Bereich des Machbaren; und zwar gegen eine "Summe in doppelter Höhe des späteren deutschen Golfkriegsbeitrags".
Nawratils Bilanz: "Der Rückkauf Ostdeutschlands hätte niemandem geschadet und allen Beteiligten genützt", nämlich: "Bonn spart gewaltige Summen für die Aufnahme der rußlanddeutschen Spätaussiedler; Moskau erhält die willkommene Soforthilfe; die Rußlanddeutschen bekommen wieder eine lebenswerte Umwelt und die überfällige Wiedergutmachung; den vertrieben Ostdeutschland wird ihr Opferstatus bescheinigt, und sie haben die Chance, im Land ihrer Väter beim Aufbau mitzuhelfen; die Balten gewinnen an Sicherheit; die Deutschen gewinnen die kostbarste Ressource, die ein Volk hat, nämlich Grund und Boden und: die Welt sieht an diesem Beispiel, daß Völkervertreibung und Völkermord nicht das letzte Wort der Geschichte sein müssen."
Bekanntlich wurde nichts daraus, und die Akten darüber sind noch unter Verschluß. Die damals agierenden Verantwortungsträger leben noch und könnten Licht in das Dunkel der Mutmaßungen bringen. Man darf gespannt sein, ob sie es tun werden.
Der wahrheitsgetreuen Erhellung der Vergangenheit wegen wäre es sehr zu wünschen; auch um den möglichen Preis eines politischen Eingeständnisses, auf daß sich nicht ein weiteres Mal eines von Parkinsons Gesetzen erfüllt, nach dem sich "ein Vakuum, geschaffen durch fehlende Kommunikation, in kürzester Zeit mit falscher Darstellung und Gerücht füllt".
Heinz Nawratil tat sein Bestes, dieses Gesetz mit seinem "Schwarzbuch" außer Kraft zu setzen. Es liegt jetzt an den Zeitgenossen, die ihnen damit gebotene Gelegenheit einer ehrlichen Aufarbeitung der Vergangenheit zu nutzen und nach dem Buch zu greifen. Es ist übrigens mit einem wissenschaftlichen und bibliographischen Anhang versehen und überaus leserfreundlich geschrieben und im Verhältnis zu seiner Informationsfülle viel mehr als nur seine 34 Mark wert.
Heinz Nawratil: Schwarzbuch der Vertreibung 1945 bis 1948. Das letzte Kapitel unbewältigter Vergangenheit, Universitas Verlag, München 1999, 248 Seiten, Leinen, 34 Mark
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