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Vertreibung als Wanderbewegung verharmlost

 
     
 
Nein, nein, es ist kein Irrtum! Ein Übersetzungsfehler? Ausgeschlossen! Der Titel des Buches lautet tatsächlich: "Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen 1945 bis 1949". Um es vorwegzunehmen, die Arbeit der polnischen Professorin Bernadetta Nitschke wirft mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt. Die aktuelle Diskussion um das "Zentrum gegen Vertreibungen
", die Verhandlungen über die EU-Osterweiterung und natürlich die Beschreibung der Jugenderlebnisse des linken Literaten Günter Grass haben das Thema Vertreibung wieder in die allgemeine Wahrnehmung gebracht. Die Auseinandersetzungen darüber werden heftig geführt und lassen häufig Objektivität und Wissenschaftlichkeit vermissen. Wissenschaftliche Objektivität soll nun von seiten polnischer Historiker kommen. Ein Produkt dieses Versuchs ist der Band 20 der "Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa". Aber schon der Blick auf den deutschen Titel läßt Zweifel am erwünschten Erfolg aufkommen. Fragen über Fragen tauchen auf: Was heißt "Aussiedlung"? War die Vertreibung denn 1949 beendet? Suchen wir nach Antworten: Was ist zum Beispiel mit "Polen" gemeint? Sind damit die durch Versailles zu Polen gehörig erklärten und die anschließend von Polen geraubten (Ostoberschlesien und andere) deutschen Gebiete gemeint? Oder handelt es sich einfach nur um einen Übersetzungsfehler.

Die Übersetzung ins Deutsche wurde von der Robert-Bosch-Stiftung finanziert. Ein solch grober Fehler ist daher eher unwahrscheinlich. Die Frage bleibt also. Einen Hinweis auf das, was mit Polen gemeint sein könnte, gibt die Buchinformation des renommierten Verlags Oldenbourg. Hierin wird dieses dubiose "Polen" kurzerhand zu "altpolnischen Gebieten" erklärt. Aber wo liegt nun wieder dieses "Altpolen"? Antwort: Nirgendwo im Raum, sondern irgendwo in der Zeit. Sprich: es ist kein geographischer Begriff, sondern gemeint ist damit ein Zeitraum von etwa 300 Jahren von 1505 bis 1795, in dem sich das polnische Territorium mehrfach vergrößerte und verkleinerte (Polnische Teilungen). Ein mieser Trick also, um den für Deutsche provokanten Titel abzuschwächen. Die Autorin bleibt ebenso vage mit ihren Definitionen, und nicht nur, was die territoriale Begriffsklärung angeht. Dieses "Bemühen polnischer Historiker um eine objektive Darstellung des Geschehens" mutet also schon auf den ersten Seiten seltsam an. So werden in der umfangreichen Einleitung der von der "Akademie der Deutschen Wissenschaften" finanzierten Schrift Begriffe so lange hin und her gewogen und "erklärt", bis nur noch das Ergebnis klar ist: im Hauptteil der Arbeit werden "Vertreibung" und "Vertriebene" nur in Zitaten vorkommen und erscheinen nur, soweit sie unumgänglich sind.

So unsicher ausgestattet geht es in den Hauptteil. Er beginnt mit einem Vergleich von "Bevölkerungsumsiedlungen" aufgrund neuer Grenzziehungen, als Ergebnis des Ersten Weltkriegs, mit der Vertreibung (von Nitschke konsequent "Umsiedlung" oder "Aussiedlung" genannt). Fazit der Autorin: Die Entwurzelung der betroffenen Bevölkerung bei den "Umsiedlungsmaßnahmen" ist der Grund für das Aufkommen des Nationalismus nach Versailles. Der Nationalsozialismus und der Sowjetkommunismus hätten dann, so heißt es im darauffolgenden Kapitel, das "Wiederbeleben des Umsiedlungsgedankens" betrieben. Hier geht Nitschke aber ausschließlich auf deutsche Umsiedlungsprogramme ein, die, wie sie zugeben muß, "Grenzkorrekturen tatsächlich gelöst" hatten. Was dieses Kapitel mit der Vertreibung zu tun haben soll, bleibt unklar. Es sei denn, es ist ein Versuch, die Vertreibung als "Umsiedlung zur Grenzkorrektur" zu verharmlosen. Der Zweck dieses Unterfangens wird durch das folgende Kapitel deutlich. Es beschäftigt sich mit Evakuierung und Flucht. Beides wird nun zu deutschen "Umsiedlungsmaßnahmen" erklärt. In diesem Kapitel fängt die Autorin an, sich auf die Zahlen des fünfbändigen Standardwerkes des Bundesministeriums für Vertriebene zu stützen. Dies bleibt im ganzen Buch ihre Hauptquelle für Zahlen. Nur was macht sie damit? Die Bilanz des Kapitels: Die Zahl von 3,3 Millionen Toten bei Evakuierung und Flucht seien zu hoch gegriffen, weil: "Während der Flucht kamen die meisten Menschen infolge der schlechten Witterungsbedingungen, bei Luftangriffen oder infolge von Organisationsmängeln um." Da fehlen einem die Worte. Allerspätestens hier möchte man nicht mehr weiterlesen. Nebenbei - es lohnt auch nicht.

Neues bringt dieses Buch nur durch Auswertung einiger offizieller polnischer und SBZ-Schriftstücke aus der Zeit von 1945 bis 1949. Die abschließende Bilanz der Autorin läßt noch einmal das Blut in Wallung geraten. Hier wird die Vertreibung als Teil von, man faßt es kaum, "Wanderungsbewegungen der Jahre 1939-1945" verharmlost. Oder an anderer Stelle, vermeintlich legitimiert durch die Beschlüsse der sogenannten "Potsdamer Konferenz", als Entfernung oder Abschiebung bezeichnet. Das hinten angefügte Kapitel zur Situation der "Deutschen Minderheit nach den Zwangsaussiedlungen" handelt, wen wundert es, von dem Bemühen der polnischen Behörden um eine "Integration" der verbliebenen Deutschen.

Insgesamt stellt die extrem schwer lesbare Arbeit den gescheiterten Versuch dar, das Geschehen objektiv zu erschließen und einen Beitrag zur deutsch-polnischen Annäherung zu leisten. Die Sichtweise deutscher Historiker wird zwar wahrgenommen und dargestellt, aber in der Regel verworfen. Ähnlich wird mit dem Zahlenmaterial umgegangen. Ralf Küttelwesch

Bernadetta Nitschke: "Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen 1945 bis 1949", Oldenbourg Verlag, München 2003, broschiert, 392 Seiten, 34,90 Euro
 
     
     
 
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