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Das Jahr 2001 ist für Deutschland und die Länder östlich seiner Grenzen ein makaberes „Jubiläumsjahr“: Am 22. Juni vor sechzig Jahren begann der Deutsch-Sowjetische Krieg, in dessen Gefolge Millionen Menschen ihr Leben oder ihre Heimat verloren, eine ganze Staatenwelt zerschlagen oder in ihrer inneren Struktur brutal umgepflügt wurde und die östliche Hälfte unseres Kontinents für fünf schreckliche Jahrzehnte hinter einem „Eisernen Vorhang“ der Unmenschlichkeit versank.
Am 14. und 15. Juni vor sechzig Jahren wurden Zehntausende von Esten, Letten und Litauern in Viehwagen nach Sibirien deportiert. In Reval gemahnte - nur wenige Meter von der Russischen Botschaft entfernt - ein großes schwarzes Transparent an diese Tage sowjetrussischen Verbrechens im Juni 1941. Die Fahnen in Estland, Lettland und Litauen trugen Trauerflor.
Am 28. August vor sechzig Jahren verfügte Josef Stalin die Deportation von Hunderttausenden von Deutschen aus der Wolgarepublik und dem übrigen europäischen Rußland nach Innerasien. Zehntausende kamen auf diesem Elendszug in die Rechtlosigkeit ums Leben.
Nur eines Ereignisses vor sechzig Jahren gedenken noch heute Esten und Letten in Dankbarkeit - der sogenannten Nachumsiedlung im Frühjahr 1941. Diese Nachumsiedlung war der von Berlin nicht vorgesehene 11. Akt der ebenfalls ursprünglich von Berlin nicht vorgesehenen Umsiedlung der Deutsch-Balten 1939.
Um diesen Auszug der deutschen Volksgruppe aus ihrer Heimat, die sie über siebenhundert Jahre lang politisch, kirchlich, kulturell und wirtschaftlich geprägt hatten, ranken sich noch Geschichtslegenden: Die Deutsch-Balten seien freudig dem Rufe des Führers „Heim ins Reich“ gefolgt, oder: Hitler habe aus humanitären Gründen die Umsiedlung angeordnet, um die Volksgruppe vor den Sowjets zu retten.
Nein, so war es nicht.
Nach der Aufteilung Polens zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion im September 1939 war den Führern der deutschen Volksgruppe in Estland und Lettland klar, daß der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August mehr sein mußte als nur ein Nichtangriffsvertrag. Sie kannten zwar das Geheime Zusatzprotokoll nicht, kamen aber nach Analyse dieser Entwicklung zur Überzeugung, daß zu diesem Vertrag allem Anschein nach eine Vereinbarung über die Teilung Europas gehören mußte - und daß Deutschland die Baltischen Staaten abgeschrieben habe. Daß die deutsche Reichsregierung sich in beredtes Schweigen hüllte, als am 28. September Moskau von Estland die Einräumung von Militärstützpunkten für die Rote Armee erzwang, bestärkte die deutsch-baltische Führung in ihrer Überzeugung, daß es binnen kurzem keine selbständigen Baltischen Staaten mehr geben werde.
An die Deutsch-Balten dachte man in Berlin bei diesem Teilungsgeschäft mit dem Kreml zunächst überhaupt nicht. Lediglich eine Vereinbarung mit der - seit dem 29. September sogar freundschaftlich mit dem Reich verbundenen - Sowjetunion über vage Schutzbestimmungen zugunsten des baltischen Deutschtums sowie die Ausreise von besonders exponierten Sympathisanten des Nationalsozialismus wurden erwogen. Eine ernsthafte Gefahr für Leib und Leben der Deutsch-Balten sah man in Berlin nicht. Ganz anders bei den politischen Repräsentanten der Volksgruppe.
Eingedenk der bolschewistischen Massaker 1918/19 an Deutsch-Balten und ihrer aktiven Beteiligung am Freiheitskrieg der Esten und Letten gegen die Bolschewisten fürchteten sie von einem Einmarsch der Roten Armee und der Machtübernahme der Kommunisten die physische Liquidierung der Volksgruppe. Sie appellierten daher an die Reichsregierung - und über den für die NS-Volkspolitik im Osten zuständigen Reichsführer SS Heinrich Himmler - an Adolf Hitler persönlich, die baltischen Deutschen ganz konkret unter den Schutz des Reiches zu stellen, baten um Waffen zur Selbstverteidigung und um den Abtransport von Frauen und Kindern.
Die Entscheidung zur Umsiedlung der ganzen Volksgruppe geschah vor dem Hintergrund der faktischen Kapitulation Estlands und Lettlands. Wilhelm Baron von Wrangell, langjähriger Präsident der Deutschen Kulturselbstverwaltung und Ver- treter der Volksgruppe im Staatsrat, hatte dem estländischen Staatspräsidenten Konstantin Päts die Mobilisierung aller wehrfähigen Deutschen für den Fall angeboten, daß sich Estland militärisch dem Einmarsch der Roten Armee widersetzen würde. Doch Päts lehnte in der Erkenntnis, daß ein Widerstand die Vernichtung des estnischen Volkes heraufbeschwören könnte, dieses Angebot ab.
Das kleine Estland hätte allein gegen die Sowjetunion kämpfen müssen - ohne Hilfe Deutschlands, das inzwischen Partner der Sowjetunion geworden war, und ohne Hilfe der Westmächte. Hatten doch Frankreich und Großbritannien sogar ihren Bündnispartner Polen beim deutschen Einmarsch durch zunächst völlig wirkungslose papierene Kriegserklärungen an Deutschland im Stich gelassen. Päts sah angesichts dieser verzweifelten Situation nur die Wahl für eine ehrenhafte Resigna- tion und für den Versuch des estnischen Volkes, in der heraufziehenden Fremdherrschaft zu „überwintern“.
Gut 90 Prozent der Deutsch-Balten folgten dem Rat ihrer Repräsentanten, in die Umsiedlung einzuwilligen - freiwillig. Doch im Angesicht der schrecklichen Alternative war dies eine „diktierte Option“. Für das Schicksal der aus verschiedenen Gründen in der Heimat Verbliebenen interessierte sich Berlin nicht.
Anzumerken ist, daß Hitler erst nach Zustimmung Moskaus die Umsiedlung genehmigte. Sie sollte dazu dienen, das wertvolle baltendeutsche „Menschenmaterial“ für die Regermanisierung des Warthegaus einzusetzen. Von einer Aktion aus humanitären Gründen kann keine Rede sein, wenngleich die Umsiedlung faktisch an die 70.000 Deutsch-Balten vor dem Zugriff der Sowjets bewahrt hat.
Offiziell wurde die Umsiedlung, die bereits im Herbst 1939 im wesentlichen abgeschlossen war, als Teil einer Friedenspolitik des Reiches verkauft, die Spannungen zwischen Staaten durch Rückführung grenzüberschreitender Volkssplitter vermindern sollte, im Baltikum wurde von einem Beitrag zur Festigung des deutschen Volkstums gesprochen. Und: Deutschland habe den baltischen Deutschen eine neue große historische Aufgabe gestellt. Auf die Fehlinterpretation entsprechender offizieller Verlautbarungen der Reichsregierung wie der Volksgruppenführungen gehen die Geschichtslegenden zurück.
Als 1940 die Sowjetisierung der Baltischen Staaten begann, die am 5. und 6. August mit deren Zwangseingliederung in die Sowjetunion einen ersten Höhepunkt erreichte, wuchs die Angst in der Bevölkerung - nicht nur unter den restlichen Deutsch-Balten, sondern ebenso unter Esten, Letten und unter den antikommunistischen Russen. Die deutschen diplomatischen Vertretungen wurden mit der Bitte um Ausreisehilfe bestürmt.
In dieser sich zuspitzenden Situation ergriff Baron Wrangell, inzwischen in der Kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes tätig, die Initiative für eine Nachumsiedlung der restlichen Deutsch-Balten. Seine Überzeugungsarbeit trug schließlich bei den maßgeblichen Beamten des AA, darunter Staatssekretär Wilhelm Keppler, Frucht. Den größten Widerstand gegen eine Nachumsiedlung leistete die SS. Sie wollte zunächst nichts von den „zweifelhaften Deutschen“ wissen, die sich der Umsiedlung 1939 und damit dem Ruf des Führers verweigert hatten. Doch auch diesen Widerstand konnte Baron Wrangell, unterstützt vom Vortragenden Legationsrat Wilhelm Grosskopf, mit geschickten Argumenten - wie dem Hinweis auf das „deutsche Blut“ dieser Menschen - überwinden.
Die Organisierung der Nachumsiedlung wurde in Estland dem letzten Präsidenten der Deutschen Kulturselbstverwaltung, Dr. Helmut Weiss, und in Lettland dem prominenten lettländischen Deutsch-Balten Andreas Baron von Koskull übertragen. Sie wurden ins Baltikum mit der Auflage geschickt, auf Nachumsiedlungswillige strengste Auswahlkriterien anzuwenden und nur in wenigen Sonderfällen Nichtdeutsche zu berücksichtigen. Aber Papier war geduldig.
Daß Baron Wrangell wie auch Helmut Weiss und Baron Koskull bei dieser Rettungsmaßnahme keineswegs nur an Deutsch-Balten dachten, erkannten in den meisten Fällen weder die Angehörigen der SS und des SD noch die sowjetischen Vertreter, mit denen gemeinsam die zweifelsfreie deutsche Volkszugehörigkeit der Bittsteller festgestellt werden sollte.
Die Mitarbeiter des deutschen Umsiedlungskommandos, fast ausschließlich hochgebildete, landes- und sprachkundige junge Deutsch-Balten im Alter zwischen 25 und 35 Jahren, war nicht nur überaus engagiert, furchtlos und selbstbewußt, sondern auch sehr kreativ. Da wurden Schulabgangszeugnisse deutscher Schulen fabriziert, Taufscheine und Konfirmationsurkunden deutscher Kirchenge- meinden organisiert, nachträglich Namen in das Volksgruppenkataster eingefügt, ja sogar Ehen zwischen gefährdeten Esten und Letten mit Reichsdeutschen fingiert, die später in Deutschland geschieden werden sollten.
Unter den ungefähr 18.000 Nachumsiedlern waren gegen 3500 gefährdete Esten und Letten. Viele von ihnen oder deren Nachkommen haben sich später im Exil für ihre Völker eingesetzt oder wirken heute am Wiederaufbau der freiheitlich-demokratischen Ordnung mit.
Diese Nachumsiedlung und wer bei dieser Aktion sich mit hohem persönlichen Einsatz für die Rettung von Esten und Letten gewirkt hat, ist nicht vergessen. Nicht zuletzt deshalb auch ist heute das Verhältnis der Esten und Letten gegenüber den Deutsch-Balten von Vertrauen und Herzlichkeit geprägt.
Den lebensgefährlichen Einsatz der Deutschen für ihre Landsleute nicht vergessen: Schon im Mai 1990 demonstrierten Letten öffentlich vor dem Rigaer Parlament für Unabhängigkeit ihres kleinen Landes. Fast ein halbes Jahrhundert Sowjetherrschaft hatte den Freiheitsdrang der baltischen Völker nicht brechen können.
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