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Die deutsche Wiedervereinigung war im Westen Deutschlands nicht jedermanns Sache, das ist bekannt. Aus sehr unterschiedlichen Motiven hatte man sich mit der Teilung abgefunden oder sah sie nicht als er-strebenswert an. Furcht vor einem starken obrigkeitsstaatlichen Deutschland, wie sie ganzen Generationen junger Deutscher in der Nachkriegszeit eingetrichtert worden ist, konfessionelle Prägungen und der Mißbrauch der Geschichte als ideologische Schlagwaffe im Kampf mit dem politischen Gegner gehörten dazu.
Der Schriftsteller und Fernsehautor Patrick Süskind beschrieb das Lebensgefühl seiner sogenannten 68er-Generation wie folgt: „Ob die Deutschen in zwei, drei oder einem Dutzend Staaten lebten, war uns schnuppe. Am 17. Juni gingen wir baden.“ Die Einheit der Nation, das National e überhaupt, sei ihre Sache nicht gewesen: „Wir hielten das für eine vollkommen überholte und von der Geschichte widerlegte Idee aus dem 19. Jahrhundert.“ Die Provence und die Toskana lagen dieser Generation näher als so dubiose Ländereien wie Thüringen, Sachsen oder Brandenburg: „Was hatten wir mit Leipzig, Dresden oder Halle im Sinn? Nichts. Aber alles mit Florenz, Paris, London.“ 1989 habe sie dann „das Erdbeben kalt erwischt“. Für viele dieser Generation war insbesondere der Schriftsteller und Grafiker Günter Grass eine moralische Autorität. Er hat als Literat und stets auf Öffentlichkeit bedachter Intellektueller große prägende Kraft gehabt. Nachdem er nun vom „Flakhelfer“ zum 17jährigen Angehörigen der Waffen-SS geworden ist, nimmt er dafür gewissermaßen die „Gnade der späten Fehlbarkeit“ in Anspruch. Fehlbar war Grass aber auch in seiner Haltung zur deutschen Einheit. Jens Hacker hat in seinen „Deutschen Irrtümern“ schon 1992 darauf hingewiesen, daß Grass noch am 18. Dezember 1989 nach dem von den Deutschen zwischen Rügen und dem Thüringer Wald friedlich erzwungenen Fall der Berliner Mauer verkündet habe, es sähe wieder einmal so aus, als werde vernunftbestimmtes Nationalbewußtsein von diffusem Nationalgefühl überschwemmt; beklommen bis verschreckt nahmen unsere Nachbarn den rücksichtslos herbeigeredeten Einheitswillen der Deutschen zur Kenntnis.“ Hacker fragte zu recht, ob Grass eigentlich die gewaltlose Revolution und den sich anbahnenden Kollaps der DDR bewußt erlebt habe und warum er sich mit solcher Überheblichkeit und Ignoranz über den Freiheitswillen der Mehrheit der DDR-Bevölkerung hinwegsetze. „Kein deutscher Schriftsteller hat 1989/90 so an den Realitäten vorbeigeschrieben wie Günter Grass“, stellte Hacker fest und bescheinigte dem damaligen „Spiegel“-Chef Rudolf Augstein, daß er in einer Fernsehdiskussion mit Grass zum Thema „Deutschland einig Vaterland“ „mit viel Geduld argumentiert habe“. Besonders der Grass-These, daß es „nach Auschwitz“ keine deutsche Einheit geben solle, widersprach Augstein: „Ich muß allerdings sagen, daß keiner, der direkt nicht betroffen ist, Auschwitz fürchterlicher finden kann als ich. Ich finde nur, wir können es in der praktischen Politik nicht perpetuieren. Das können ja unsere Kinder gar nicht nachvollziehen, das geht nicht.“ Hacker verweist darüber hinaus darauf, daß vor allem Günter Grass „permanent und multimedial“ seine unter historischen, politischen und psychologischen Aspekten verfehlte These von der „Gefährlichkeit eines wiedervereinigten Deutschlands“ verbreiten konnte. Der Eindruck, „er fühle sich von der Geschichte persönlich beleidigt“, offenbare das damalige Stimmungsbild eines guten Teils der deutschen Medien. Unter Hinweis auf Jens Jessen meint Hacker, daß Medienauftritte der deutschen Dichter und Denker zu den „burlesken Szenen am Rande der Wiedervereinigung gehörten“. „Wollte man ihnen glauben, so stünde die deutsche Nationalgeschichte vor ihrer schlimmstmöglichen Wendung.“ Der politisch erzwungenen Teilung „wurden die Weihen des moralisch Wünschbaren“ verliehen. Man sprach von „Vergangenheitsbewältigung“ und meinte die Sicherung des Status quo für alle Zukunft. Nach und nach gewann die deutsche Teilung die Würde einer nationalen Buße, die für die „Sünden der Vergangenheit zu leisten sei“. So sei im Westen die Wiedervereinigung zu einem Tabu geworden. Fest steht: Eine Kulturnation mit extrem föderalistischer Struktur war, wohlwollend betrachtet, das Höchste, was Grass vielleicht abzuringen gewesen wäre, wenn man seinen Wunsch befolgt hätte, den Rat der Schriftsteller – also seinen – einzuholen.
Doch auch Politiker waren nicht sehr viel klüger. Heiner Geißler, langjähriger Generalsekretär der CDU, hatte angesichts der Wiedervereinigung Anfang der 90er Jahre seine Sorgen: Er freute sich zwar darüber, daß die Revolutionäre des Jahres 1989 Freiheit und Demokratie wollten, aber: „Ich möchte nicht, daß das alles durch schwarz-rot-goldene Fahnen zugeweht wird. Als der Kanzler in Dresden mit Modrow vor der Frauenkirche die große Kundgebung hatte, gab es plötzlich den Slogan: ,Wir sind ein Volk!‘ Ich hatte diesen Satz zum ersten Mal im Dezember 1989 bei uns im Konrad-Adenauer-Haus (in Bonn) gehört und gesehen. Die Bundesgeschäftsstelle (der CDU) hatte einen Aufkleber mit diesem Satz drucken lassen. Ich weiß noch, daß ich dagegen protestiert habe. Ich hatte den Eindruck, daß auch Helmut Kohl damals Schwierigkeiten damit hatte, ganz im Gegensatz zu Alfred Dregger, der das gut fand. Der Spruch erinnerte mich an ,ein Volk, ein Reich, ein Führer!‘ Glücklicherweise hat diese Assoziation später weder im In- noch im Ausland eine Rolle gespielt.“
Soweit Heiner Geißler im Jahr 1993. Die Zeit ist darüber hinweggegangen, über Grass, Geißler und viele andere. Als die Welt im Sommer 2006 zu Gast war in einem freundlichen, heiteren, schwarz-rot-goldenem Land im Herzen Europas – was haben die Bedenkenträger von einst wohl empfunden? |
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