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Mitte März 1915, nach der Winterschlacht in Masuren, suchte die russische Heeresleitung durch einen Vorstoß auf Memel die Aufmerksamkeit des Oberkommandos Ost, das damals noch in Posen war, von der gerade eingeleiteten Hauptoperation abzulenken. Am 17. März 1915 hatten die russischen Kräfte den Vormarsch angetreten. Der deutsche Landsturm wehrte sich zwar redlich seiner Haut, aber die Übermacht war zu stark; Memel mußte aufgegeben werden, und viele Einwohner verließen die Stadt, da sie nicht noch mal die Schrecknisse einer russischen Besetzung erleben wollten.
Etwas abgelegen von den Hauptstraßen lag in tiefer Dunkelheit, die allmählich eingebrochen war, das Kaiserliche Postamt. Der Vorsteher war als pflichtgetreuer Beamte r auf seinem Posten geblieben, ebenso ein Telefonfräulein. Die Russen hatten das hohe rote Backsteingebäude anscheinend für eine Kirche oder Kapelle gehalten und es bisher noch nicht betreten, auch waren sie wohl mit der Plünderung der Wohnhäuser vollauf beschäftigt, als sich um dieses kümmern zu können. Ihre Freude, nun endlich mal einen "Sieg" feiern zu können, gab ihnen Veranlassung, sich an den in der Stadt vorgefundenen Alkoholvorräten gründlich schadlos zu halten und ihre Gewehre in die Luft abzufeuern.
Plötzlich wurde über das Gouvernement Königsberg vom Oberkommando in Posen angerufen, und ein Offizier verlangte Verbindung mit dem Kommandeur der deutschen Truppen. Da er sich mit dem Vorsteher nicht verständigen konnte, wurde Fräulein Erika Röstel an den Apparat gerufen, und durch sie erfuhr nun das Oberkommando, wie es um Memel stand, daß die Truppen abgezogen, der größte Teil der Bevölkerung geflüchtet und der Russe in der Stadt beim Plündern war. Als der Offizier nun fragte, warum sie nicht auch geflüchtet wäre, erwiderte das Telefonfräulein, sie hätte geglaubt, ohne Befehl ihre Dienststelle nicht verlassen zu dürfen. Da sie in den vorhergehenden Stunden auch die Verbindung für den deutschen Befehlshaber während der Kämpfe um Memel hergestellt und die Telefongespräche mitangehört hatte, konnte sie auch Auskunft geben, von welcher Richtung der Russe angegriffen hatte, was es für Truppen waren, die den Deutschen gegenüberstanden, wie stark sie von der deutschen Besatzung geschätzt worden waren, und ähnliche militärische Fragen beantworten. Erika Röstel sprach, da der Offizier freundlich zu ihr war, ganz ohne Scheu, so wie sie es nach bestem Wissen verantworten konnte; nur als man es ihr nicht recht glauben wollte, daß der Russe in der Stadt sei und alle möglichen Exzesse begehe, öffnete sie das Fenster und legte den Hörer auf das Fensterbrett, damit der Generalstabsoffizier in Posen die Schüsse auf den Straßen hören konnte. Dieser machte ihr darauf das Kompliment, sie scheine in ganz Memel der einzige tapfere Soldat zu sein; er verlangte dann ihren Namen zu wissen und bat, wenn es möglich wäre, ihn von Zeit zu Zeit wieder anzurufen und gleich den General Ludendorff zu verlangen! Da klopfte dem kleinen Telefonfräulein doch das Herz, und sie fragte sich ängstlich, ob sie nicht vielleicht, als sie den Rückzug der deutschen Truppen und die Aufgabe der Stadt geschildert hatte, doch etwas gesagt hatte, was man unter Umständen in Posen bei Ober-Ost übel vermerken würde.
Kurze Zeit darauf wurde Erika Röstel nochmals von Posen verlangt. Wieder war General Ludendorff am Fernsprecher; nachdem sie seine neuen Fragen, so gut es ging, beantwortet hatte, sagte er plötzlich: "Bleiben Sie am Apparat, Herr Generalfeldmarschall will Sie noch sprechen!" Nun war es beinahe um ihre Fassung geschehen. Der verehrte Feldherr, der schon zweimal Ostdeutschland befreit hatte und der sicherlich Mittel und Wege finden würde, daß die Stadt nicht allzu lange unter der Russenherrschaft zu leiden hätte, wollte sie, ein kleines Telefonfräulein in bescheidener Stellung, persönlich sprechen! Und dieser belobte sie dann, daß sie so treu auf ihrem Posten aushielte inmitten einer vom Feind besetzten Stadt, und sagte ihr dann die Worte, die sie unendlich stolz machten und an die sie wohl Zeit ihres Lebens denken würde: "Sie sind ein tapferes Mädchen!"
So vergingen die Stunden. Als sie schließlich erneut mit Ober-Ost in Posen sprach, hörte sie, wie die Russen die Türen des Postamtes, das sie endlich gefunden hatten, aufsprengten. Sie sagte dies dem Offizier und daß es wohl nun mit ihrer Berichterstattung zu Ende sei; denn jetzt höre sie schon die stampfenden und schwerfälligen Schritte der Russen auf den Korridoren, sie müsse deshalb abhängen. Wenige Sekunden später stand ein russischer Offizier, begleitet von einigen Mann russischer Reichswehr, in ihrem Arbeitsraum. Eine Taschenlampe blitzte auf, denn Fräulein Röstel hatte die ganze Zeit im Dunkeln gearbeitet, um die Russen nicht unnötig auf das Postamt aufmerksam zu machen. Wenn der russische Offizier geahnt hätte, daß die vor ihm Stehende noch wenige Augenblicke zuvor mit dem deutschen Oberkommando gesprochen hatte, so wäre ihr wohl der Spionentod sicher gewesen. So begnügte er sich, die Apparate unbrauchbar zu machen und die Leitungen zu zerschneiden, wobei er in nicht mißzuverstehender Weise recht auffällig mit seinem Revolver spielte. Die Telefonistin wurde dann nach Hause geschickt.
Wenige Tage später war der russische Spuk verscheucht, die Herrlichkeit hatte nicht allzu lange gedauert. Von allen Seiten waren preußische Truppen herangeholt worden, und in wilder Hast mußten die Russen fluchtartig Memel wieder räumen. Fräulein Röstel konnte ihren Dienst wieder aufnehmen. Im Auftrag von Ober-Ost wurde ihr durch den jüngsten Kaisersohn, den Prinzen Joachim von Preußen, ein silbernes Uhrarmband mit eingravierter Widmung überreicht und der Dank des Oberkommandos ausgesprochen.
Aber auch von Generalfeldmarschall v. Hindenburg erhielt die tapfere Frau noch eine besondere Anerkennung. Eines Tages kam für sie ein großes Dienstschreiben an: "An die Telegraphenassistentin Fräulein Erika Röstel in Memel." In ihm wurde ausgeführt, wie sie, die Gefahr mißachtend, nicht dem Beispiel der anderen gefolgt wäre und die Flucht ergriffen hätte, sondern in vorbildlicher Pflichterfüllung treu auf ihrem Posten ausgeharrt hätte, wodurch es ihr möglich war, das Oberkommando Ost mit wichtigen Nachrichten zu versehen, die wesentlich dazu beigetragen hätten, daß noch in derselben Nacht Gegenmaßnahmen ergriffen und die Stadt schnellstens von der Russenherrschaft wieder befreit werden konnte. Unterzeichnet war das Schreiben vom Herrn Generalfeldmarschall persönlich.
Bei der Niederschrift seiner Erinnerungen hat sich General Ludendorff dieser wackeren Beamtin erinnert und ihr mit den nachstehenden Worten ein schlichtes Denkmal gesetzt. Militärisch kurz und sachlich heißt es dort auf Seite 104: "Russische Haufen drangen auf Memel vor, das der Landsturm aufgab. Wir erfuhren davon durch ein Telephonfräulein, das uns anrief und noch Meldungen erstattete, als die Russen bereits im Postamt waren. Ich habe mich bemüht, dem jungen Mädchen, Fräulein Erika Röstel, das Eiserne Kreuz 2. Klasse zu verschaffen. Es war nicht möglich. Sie erhielt später eine goldene Uhr vom Staate."
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