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Hanna warf ihren Schulranzen mit lautem Knall in eine Ecke und ließ sich laut seufzend am Mittagstisch nieder. "Was ist dir denn über die Leber gelaufen?" Die Mutter schöpfte Suppe in den Teller ihrer Tochter und sah sie dabei fragend an. "Ooch", meinte das Kind, "Pfarrer Nieswand hat mir in der Religionsstunde nicht geglaubt, daß ich die Seele schon gesehen habe und daß sie zwanzig Zentimeter lang und ganz schmal ist und wunderbar silbrig schimmert. Da hat er gesagt, ich soll in seiner Stunde besser aufpassen und nicht solchen Unsinn erzählen. Die Seele ist in jedem Menschen drin und bestimmt nicht sichtbar. Nur Gott kann sie sehen. Und dann hat er mich die ganze Zeit nicht mehr drangenommen, soviel ich mich auch gemeldet habe. Und das finde ich ungerecht!"
"Man kann die Seele doch auch nicht sehen", sagte die Mutter ernst. Hanna sah empört aus. "Aber du hast doch selbst gesagt, daß ..."
Und dann folgte ein längeres Gespräch zwischen den beiden, bei dem sich Hannas Mutter mehrmals vor Lachen krümmte. "Ich muß dem Herrn Pfarrer gleich morgen die richtige Geschichte erzählen", gluckste sie, "wie ich ihn kenne, denkt er sonst, du hättest ihn ein wenig veräppeln wollen."
Zärtlich strich sie dem Kind übers Haar. "Dabei ist die Sache doch nur ein Mißverständnis gewesen." Hannas Mutter kam aber nicht gleich dazu, ins Pfarrhaus zu gehen, um ihrem ehemaligen Studienkollegen Michael Nieswand den wahren Sachverhalt darzulegen. Erst am Fest des heiligen Michael, als sie mit den Damen aus der Kleiderstube im Pfarrhaus saß und dem "Namenstagskind" zutrank, sagte sie mit geheimnisvoller Miene: "Und nun möchte ich Ihnen allen eine hübsche Geschichte erzählen. Sie beginnt damit, daß eine Schülerin des Herrn Pfarrer neulich behauptete, sie könne die Seele sehen."
"Die Seele sehen?" rief Marga Hummel, die Leiterin der Kleiderstube, entrüstet aus. "Das kann ja wohl niemand!" - "Höchstens nachher im Himmel", pflichtete ihr Maria Ebers bei und begleitete ihre Behauptung mit erhobenem Zeigefinger. "Ach, laß mal gut sein, Katharina!" Pfarrer Nieswand lächelte seiner früheren Kollegin zu. "Ich weiß ja, deine Hanna hat eine reiche Phantasie und ..."
"Ich bin schuld an der Sache, Michael." Hannas Mutter sah schief lächelnd in die Runde. "Es war so: Meine Familie ißt so gerne Hering. Vor ein paar Wochen habe ich ihn wieder einmal auf den Tisch bringen wollen. Ich verlange immer Fische, die noch nicht von ihren Innereien befreit sind, diese Arbeit mache ich lieber selbst, weil ich das schon als Mädchen so gern getan habe, unglaublich, was? Diesmal war Hanna zufällig dabei. Und was findet man in so einem Heringsleib? Na?"
"Die Galle", rief Mimi Enders. "Die Leber!" - "Den Rogen!"
Die Stimmen schwirrten durcheinander. Alle hatten schon einmal einen Hering ausgenommen, in früheren Jahren mußten die Hausfrauen diese glitschige Arbeit selbst tun, und fast alle der anwesenden Damen hatten bis auf Hannas Mutter die Fünfzig lange überschritten.
"Ihr habt noch was vergessen", lachte die junge Frau. "Was denn noch? - Ach ja, die Gräten natürlich!"
"Und noch etwas. Da ist noch die Luftblase, durch die der Fisch nach oben schwimmen kann. Und die ist etwa zwanzig Zentimeter lang, ganz schmal und schimmert silbern."
"Lieber Gott", sagte der Pfarrer, der schon etwas ahnte, und wischte sich die feuchte Stirn.
Hannas Mutter lächelte. "Und ich habe zu meiner Tochter gesagt, ,das ist die Seele des Herings ." Entschuldigend blickte sie in die Runde. "Da hat Hanna wohl angenommen, auch wir Menschen haben ..."
Allgemeines Gelächter in der Runde. Pfarrer Nieswand schmunzelte. "Trinke mit mir auf dein Töchterlein, Katharina, und vor allem auf die Seele."
Hannas Mutter hob ihr Glas. "Silbrig schimmernd, ganz schmal und etwa 20 Zentimeter lang."
Erwachen von Lotte Lübbermann
Ich hörte den Ruf der Kraniche,
als ich in der Nacht
seltsam freudig aufgewacht.
Sie kehren zurück.
Meine Gedanken begleiten ihren
Flug ein ganzes Stück.
So lauscht ich hinaus
und dachte,
der Frühlingswind
streicht um das Haus.
Bald fielen die Vögel
zwitschernd ein,
und am Himmel erschien der
erste Morgenschein. |
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