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An einem sonnigen Septembermorgen vor einem Jahr geriet mein Weltbild ganz plötzlich ins Wanken. Ich stand im Bad vor dem Spiegel und zupfte meine Augenbrauen in Form. Mein Blick tastete sich über mein Gesicht, ich konnte mit meinem Aussehen zufrieden sein. Die kleinen Lachfältchen links und rechts neben den Augen stehen mir gut, dachte ich und zwinkerte meinem Spiegelbild gut gelaunt zu.
Auf einmal sah ich es!
Mir stockte der Atem. Ich ging mit meinem Gesicht ganz nah an den Spiegel heran. An meiner Schläfe kräuselte sich ganz ungeniert das erste graue Haar. Ich zog es vorsichtig in die Länge und ließ es dann mit einem Ruck wieder zurückschnappen. Beunruhigt suchte ich nach einem eventuellen Gegenstück. Doch anscheinend hatte sich wirklich nur dieses eine graue Haar auf meinen Kopf verirrt.
Ich war alarmiert. Wo ein graues Haar ist, wird über kurz oder lang noch ein zweites und dann ein drittes sein. Es beginnt ganz schleichend an den Schläfen und ehe man sich versieht, steht man mit grauem Haupthaar da.
Vorsichtig zog ich ein wenig an dem grauen Löckchen. Soll ich, oder soll ich nicht? Ein Ruck, und ich wäre den lästigen Störenfried los.
Gerade als ich das Haar einmal um den Finger wickelte, damit es mir nicht durch die Hand rutschen konnte, fiel mir meine Oma Hermine ein. Nicht nur weil Oma Hermine es fertiggebracht hatte, eine Unmenge von roten Lockenwicklern in ihren silbergrauen Haaren verschwinden zu lassen, sondern weil mir plötzlich ein Spruch einfiel, den sie oft zu meiner Mutter gesagt hatte. "Für jedes graue Haar, das du ausreißt, wachsen dir hundert graue Haare nach."
Erschrocken hielt ich inne. Das graue Haar kringelte sich erleichtert zusammen und verschwand zwischen meinen braunen Strähnchen.
Das Leben ist ganz schön ungerecht, dachte ich und griff nach meiner Haarbürste. Während ein Mann mit grauen Schläfen für viele Frauen erst interessant ist, wird eine Frau mit grauen Haaren mitleidig als ältere Dame bezeichnet. Es soll ja sogar Männer geben, die der Natur vorgreifen und sich schon in jungen Jahren die Schläfen grau färben lassen.
Verständnislos schüttelte ich den Kopf. Jeder wie er will, dachte ich und sah aus dem Fenster. Vor dem Nachbarhaus stieg gerade unser Versicherungsvertreter aus seinem Auto. Auch er hatte graue Haare, das war mir bisher noch gar nicht aufgefallen. Elegant sah er aus, in seinem dunkelblauen Anzug. Männer mit grauen Haaren wirken lebenserfahren und selbstsicher.
Nachdenklich strich ich mir eine Locke aus der Stirn. Ich dachte an meinen Vater, die Natur hatte seinem Haar erst gar nicht die Chance gegeben zu ergrauen. Schon sehr früh waren ihm die Haare büschelweise ausgefallen. Als Ausgleich zu seinem schütteren Haupthaar hatte er sich einen Bart stehen lassen. So war das Defizit wenigstens einigermaßen ausgeglichen.
Ich ging in die Küche und stellte die Kaffee maschine an. Mit der neuesten Ausgabe meiner Frauenzeitschrift kuschelte ich mich in die Ecke meines Lieblingssessels. Dior brachte ein neues Parfüm heraus, schnuppernd hielt ich meine Nase an den Teststreifen. Hmm, nicht so süß, eigentlich genau meine Duftnote. Ich blätterte weiter, während die Kaffeemaschine zischend signalisierte: "Der Kaffee ist fertig."
"Brillantes Farbergebnis, sie werden begeistert sein. Unter zwölf Farben können Sie wählen. Auch Ihre Farbe ist bestimmt dabei." Die zweiseitige Anzeige machte mich neugierig. Aufmerksam sah ich mir die Farbskala an. Da ich vom lieben Gott zu meinem Leidwesen einen matschbraunen Haarschopf mitbekommen hatte, gab es für mich eigentlich nur eine Haartönung, die in Frage kam. "Haselnußbraun" kam meiner eigentlichen Haarfarbe am nächsten.
Aber warum sollte ich nicht mal mutig sein? "Tizianrot", das war es. Ich würde mir meine Haare tizianrot färben. Ich mußte lachen, würde diese Haarfarbe zu mir passen? Würde sie am Ende einen ganz anderen Menschen aus mir machen? Was würden meine Freunde und Kollegen sagen? Ich würde mir eine völlig neue Garderobe zulegen müssen. Mein roter Lieblingspullover zu tizianrotem Haar - ein schrecklicher Gedanke.
Ich schlug die Zeitung zu und ging seufzend in die Küche. Vor dem Spiegel in der Diele blieb ich stehen und sah prüfend an mir hinunter. Ja, ich war mit meinem Aussehen wirklich ganz zufrieden. Ob tizianrot oder matschbraun, ich würde bestimmt dieselbe bleiben. Und jeder, der mich mit meinen matschbraunen Haaren mochte, wird mich bestimmt auch mit ergrauten Haaren mögen.
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