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Goethe, der unseren Volkscharakter in Sachen Politik gut kannte, ließ bewußt den deutschen Philister mit Leidenschaft über den Händel „weit hinten in der Türkei“ lamentieren. Die Kirchturmperspektive paßte zu Kleinstaaterei und Duodez-Fürstentum. Nach der Reichsgründung und auch nach 1918 wurde dies anders. Kritik galt als erwünscht, sofern sie Reich und Republik nicht gefährdete . Seit die Erneuerer von 1945 die Sache in die Hand genommen haben, scheint es so, als müßte einzig die Abscheu über die Zeit von 1933 bis 1945 als Maxime des politischen Schauens gelten. Es verwundert nun kaum noch, wenn sich etwa die Regierung von Mecklenburg-Vorpommern ungestört zur erneuten Einführung des 8. Mai, als dem „Tag der Befreiung“, entschließen konnte. Muß sich ein Hinterpommer nun seit Mai 1945 befreit fühlen? Die Antwort könnte nur zynisch sein, doch da Kritik inzwischen die Staatsräson stört, dürften Befragte nur noch ausweichend antworten. So erzeugt man Muckertum, das sich in Zeiten größerer Herausforderung alsbald rächen dürfte.
Allein die Tatsache, daß die Wähler im Ostteil Berlins sich mit rund 48 Prozent zur Wahl der SED-Nachfolgepartei entschlossen, zeugt von der Lebensferne etablierter Parteien. Dieser Tage wird mit Pathos zum Kampf gegen Moslem-Extreme aufgerufen. Haben wir aber noch eigene Werte? Oder können wir nur noch von Hitler-Verdammung lallen? Gilt das reformatorische Kirchenlied „Wach auf, du deutsches Land ...“ nicht schon längst verdächtig extrem? Müller
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