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Das Spiel mit der Wahrheit

 
     
 
Jedermann weiß, laut Strafgesetzbuch ist „Betrug“ strafbar. Doch bezieht sich dies nur auf Dritte. Von „Selbst“betrug erwähnt der Gesetzgeber kein Wort. Allerdings stellt sich auch die Frage, ob die Person, die sich selbst betrügt, sich dessen überhaupt bewußt ist. Nur wie lautet eigentlich die genaue Definition, wo hört das „Sich-etwas-schön-reden“, das „Verharmlosen“ von Tatsachen auf, wo beginnt der Tatbestand des Selbstbetruges? Eine Frage, die sich Deutschlehrer Joachim Linde, die Hauptfigur in Jakob Arjounis Roman „Hausaufgaben
“, anscheinend noch nie gestellt hat. Dieser versteht es nämlich auf vortreffliche Art und Weise, die Realität immer aus dem Winkel zu betrachten, der ihm gerade in den Kram paßt. Er ist sich durchaus dessen bewußt, daß seine Frau Ingrid unter starken Depressionen leidet und daß seine mittlerweile dem Teenageralter entwachsene Tochter Martina, die – am Rande erwähnt – bereits einen Selbstmordversuch hinter sich hat, ohne eine Nachricht zu hinterlassen zu ihrem Freund nach Mailand entschwunden ist. Trotzdem hört Linde nie auf, davon zu reden, daß seine „kleine“ Tochter irgendwann reuig vor seiner Tür stehen und ihren weisen, vergebenden Vater für ihre Dummheit um Entschuldigung bitten wird. Doch das Schicksal zieht ihm einen gehörigen Strich durch die Rechnung. Eines Tages, nachdem er seine Frau just wieder aufgrund eines Anfalles starker Depressionen in der Klinik abgeliefert hat, klingelt es an der Haustür. „Als er die Tür aufzog, stand ein junger Mann in Anzughose und T-Shirt vor ihm. Er trug eine verspiegelte Sonnenbrille und hatte eine tätowierte Rose auf dem Arm … ,Ich bin der Freund von Martina und gekommen, um ihre Sachen zu holen.‘“ Während Martinas Freund, Moritz, in deren altem Kinderzimmer rumort, sitzt Linde empört auf der Couch. Innerlich beschimpft er den Fremden als „Hallodri“, „Gesocks“ und „Halunken“. Er erinnert sich zurück an seine unschuldige süße „Tatütata“, als sie noch ein kleines Mädchen war, und kann nicht fassen, was in diesem Moment in seinem Hause geschieht. Als Linde sich weigert, beim Zusammenpacken von Martinas Sachen zu helfen, wird Moritz direkter: „,Oje Herr Linde‘, der junge Mann seufzte. ,Sie sind ja noch ekelhafter, als Martina sie beschrieben hat!‘“, und er erinnert Linde an ein bestimmtes Ereignis aus dessen Vergangenheit, das dem Lehrer vor Empörung schier den Atem raubt. Aber damit nicht genug. Kaum, daß Moritz verschwunden ist und Linde sich gerade seine Welt wieder so hingebogen hat, wie es ihm schmeckt, kommt sein 16jähriger Sohn Pablo nach Hause. Doch anders als gewöhnlich hat der ruhige, sich bei amnesty international engagierende Junge einmal ein ganz anderes Thema. Starr vor Schreck lauscht der Vater wehrlos den Anschuldigungen seines Sohnes, ehe dieser vor Wut polternd das Haus verläßt und mit Lindes Auto davonbraust. Einige Stunden später erhält Linde die Nachricht, daß Pablo verunglückt sei und im Koma liege. Wie es Lehrer Linde letztendlich gelingt, sich „gedanklich“ aus seiner privaten Misere zu befreien, und es nebenbei noch meistert, auf einer Schulkonferenz den Vorwurf, ein „kleiner feiger antisemitischer Scheißer“ zu sein, elegant abzuschmettern und die Sympathien auf seine Seite zu ziehen, ist ebenso amüsant wie erstaunlich. „Hausaufgaben“ ist ein psychologisch geschickt aufgebauter Roman, der den Leser immer wieder Vermutungen über die Person Joachim Linde anstellen läßt. Schuldig im Sinne der Anklage oder armes Unschuldslamm? Bis zum Ende des Buches bleibt offen, was in der Vergangenheit der Familie Linde dazu geführt hat, daß die Zusammengehörigkeit letztendlich zerbrochen ist und einzelne Familienmitglieder mit einem mehr oder minderschweren Knacks davon gekommen sind. Kurz und knackig! Jakob Arjouni: „Hausaufgaben“, Diogenes Verlag, Zürich 2004, geb., 189 Seiten, 17,90 Euro

 
     
     
 
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