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Es war im September 1930, als Agnes Miegel zum ersten Mal das Gedicht „Herbstgesang“ veröffentlichte. Zwei Jahre später dann kam ein Buch heraus, das den Titel dieses Gedichtes trägt und das sie ihrem verstorbenen Verleger Eugen Diderichs widmete. Die „Königsberger Allgemeine Zeitung“ veröffentlichte am 5. Dezember 1932 im ersten Beiblatt der Abend-Ausgabe eine Rezension zu diesem Buch, das heute leider nur noch in Antiquariaten zu finden ist. In diesem Beitrag findet der Rezensent derart treffende und noch heute gültige Deutungen des Werks der hoch verehrten Dichterin, daß wir sie nicht vorenthalten möchten:
Die ostdeutsche Heimaterde ist die Wurzel, aus der sie lebt. In einem der allerschönsten Gedichte denkt sie sich das Paradies, in das sie nach dem Tode eingehen möchte, und es ist kein leuchtender Bezirk, in dem die Engel harfen, sondern das Mutterland, das Großmutter- und Großvaterland, die von Erinnerung und Liebe verklärte ostdeutsche Heimat. Wenn im feierlichen und doch so schmiegsamen Schritt ihrer Rhythmen, in den Odenmaßen und den Hexametern, die Hauptwörter kräftig dastehen wie im alten germanischen Stabreim, wenn sie breit ist in der drängenden Fülle des Pathos und wieder knapp, weil die große Rüstung nirgends zu weit wird, wenn sie das Strenge und Zarte vereinigt, so werden aus all dem die mahnenden Anrufe gebildet, hart und groß wie die Heimat zu sein, die packenden Bilder der Vorzeit und der Geschichte und die rührenden Strophen, in denen der Sommer über unserem Lande blüht und seine Kinder heranwachsen.
Unser Plattdeutsch und seine Verkleinerungsformen dürfen ebenso in der Feierlichkeit mitten drin stehen wie der heimatliche Storch, treu über dem Dach kreisend, verglichen werden darf mit den Geistern der Gefallenen, oder das Quaken der Frösche aus dem Sumpf mit dem Raunen der im Krieg Ertrunkenen. Alles Heimatliche, alles Ländliche leuchtet unter einem liebenden und großmachenden Blick.
Im Bilde einer Mutter und mütterlicher Gottheiten verdichtet sich dieser Frau die Heimat und das Leben. Im mit der Mutter Zweisprache haltenden, im geleiteten, im heimkehrenden Kind verkörpert sich ihr der Mensch in seinem Lande und in der Welt. Und mütterlich geht der Blick auch über die Grenze: Wenn die ostdeutsche Frau und die russische Frau einander suchen oder die Gefallenen über die Länder hinweg nahe Brüder sind, so findet hier ein großes, frauliches Fühlen das rechte Gleichgewicht zwischen Deutschsein und Menschenbrüderlichsein. Es ist schwer und auch nicht nötig, in dem Werk Agnes Miegels die sittlich-seelische Größe und das künstlerische Vermögen zu scheiden. Sie sind wie eines. Daß da nirgends etwas gemacht ist, alles ganz empfunden, daß die innere Bedeutsamkeit mit der dichterischen Gestaltungskraft restlos ineinanderwuchs, macht diese Dichtungen so vollkommen.
Was für Balladen! „Die Fähre“, „Das Gebet eines weißen Mannes“, „Gib, Erde, gib“, „Melchior“! Jedesmal der heiße Atem des Geschehens, bildhafte Kraft und ein großer tiefer Sinn. Müßig, viele Worte zu machen. Wir haben ein ganz gewichtiges neues ostdeutsches Buch bekommen und zugleich eines der vollgültigsten Werke unseres Schrifttums überhaupt.
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