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110 Jahre alt und arm

 
     
 
Seit Mai dieses Jahres hat das Tilsit-Theater eine neue Direktorin: Unter der Leitung von Nina Lemesch soll das experimentierfreudige Theaterensemble von Regisseur Jewgenij Martschelli zu neuen Erfolgen bei internationalen Festivals geführt werden. In diesem Jahr konnte die Theatertruppe schon große Erfolge in Danzig feiern, wo sie den "Othello" aus dem Stegreif spielte, sowie bei Auftritt
en in der Bundesrepublik Deutschland. Für das Jahr 2004 können die Schauspieler eine offizielle Einladung zu den Shakespeare-Festspielen in mehreren Städten der Polnischen Republik verbuchen.

Das heutige Tilsit-Theater kann auf eine lange und stolze Tradition zurückblicken. Es hat seine Wurzeln in dem deutschen Stadttheater, das 1893 auf dem Anger eröffnet wurde. Für den Bau des Theaters hatte der Rentner August Engels der Stadt eine beachtliche Summe gespendet. Die erste Spielzeit 1893 wurde mit der "Feierlichen Ouvertüre" von Weber eröffnet, und mit der Aufführung des "Egmont". Kernstücke des Repertoires bildeten Musikaufführungen, überwiegend Opern und die beim Publikum so beliebten Operetten, sowie klassische Dramen. Die Tilsiter Bühne wurde die Wiege vieler führender Theaterschaffender und des Kinos: Sie wurde zur ersten Sprosse auf der Erfolgsleiter großer Dramaturgen wie Frank Wedekind und Dichter wie Alfred Brust.

Im Laufe von 110 Jahren trug das Theater mehrere Namen: "Stadttheater", "Grenzlandtheater Tilsit", "Drama-Theater", "Dramatisches Theater des Kaliningrader Gebiets", und vor einigen Jahren gestatteten die russischen Behörden die Einführung der deutschen Bezeichnung "Tilsit-Theater".

Hatte die Stadt seit dem Tilsiter Frieden immer wieder Kriege gesehen, so war der Zweite Weltkrieg doch die schlimmste Katastrophe in der Geschichte des Theaters: es mußte 1943 geschlossen werden. Erst 13 Jahre später erwachte es zu neuem Leben in der nunmehr "Sowjetsk" genannten Stadt unter sowjetischer Führung. Zunächst konnte das Theater an der Peripherie des großen totalitären Staates aus seiner provinziellen Existenz nicht herausfinden. Der Regisseur Boris Kodokolowitsch bemühte sich intensiv und mit Hingabe um talentierten Nachwuchs, doch erst durch die Veränderungen der Perestroi- ka-Zeit gelang es dem Theater, seine Provinzialität loszuwerden. Seitdem gehört es zu den interessantesten Theatern des russischsprachigen Raums. Maßgeblich trug die sechsjährige Tätigkeit des Regisseurs Jewgenij Martschelli, Sohn eines italienischen Einwanderers, zum Erfolg des Theaters bei. Es waren vor allem seine Experimentierfreudigkeit, die unerwarteten Ver- körperungen und Vorstellungen, die auf internationalen Theaterfestivals beeindruckten und ein positives Echo bei Kollegen, Jurys und Kritikern hervorriefen. Seit Beginn der 90er Jahre entwickelten sich viele Kontakte zu Theatern in der Republik Polen, der Bundesrepublik Deutschland, der Italienischen Republik und den Vereinigten Staaten von Amerika.

Für kommenden Herbst ist eine Aufführung von Tschechows "Drei Schwestern" geplant und die Teilnahme am Theaterfestival in Mos-kau. Für November liegt dem Ensemble eine Einladung zur Teilnahme am internationalen Festival der modernen russischen Dramaturgie im Rahmen des europäischen Theaterprogramms "West-Ost" vor. Zum Repertoire des Theaters gehören neben eigenen Stücken des Regisseurs Martschelli Inszenierungen russischer Klassiker wie "Datschniki" von Gorki, "Maskerade" von Lermontow sowie von Werken Ostrowskis und Turgenjews. Neben Shakespeare-Dramen steht auch Sudermanns "Die Schmetterlingsschlacht" (Komödie von 1895) auf dem Programm, und neuerdings wurde auch Strindberg einstudiert. Auch Kindertheateraufführungen und Puppentheater zählen zum vielseitigen Repertoire des Ensembles. Zur Strindberg-Aufführung wurde der schwedische Regisseur Ulf Andersson eingeladen, der von den Schauspielern des Tilsit-Theaters und der Inszenierung gleichermaßen begeistert war.

Sorgen bereiten der Bühne die großen finanziellen Probleme, die mit der schwachen Wirtschaftsentwicklung der Region und dem niedrigen Lebensstandard der Bevölkerung zusam-

menhängen. Dies führt dazu, daß immer weniger Zuschauer den Weg ins Theater finden. Die staatlichen Subventionen werden Jahr um Jahr gekürzt, und das Theater sucht ständig neue Quellen zur Finanzierung, vor allem in der Bundesrepublik. In Hamburg existiert ein "Freundeskreis Tilsit-Theater", in dem der ehemalige Betriebsinspektor des Hamburger Schauspielhauses, Walter Stuhlemmer, engagiert bei der Unterstützung des Theaters in Form von Ausrüstung, Material, Kostümen und Geldspenden mitwirkt. Begrüßenswert wäre auch ein Engagement berühmter Tilsiter wie Armin Mueller-Stahl.

Die Theaterdirektorin wünscht sich für die Zukunft eine engere Zusammenarbeit mit dem Freundeskreis, weil das Theater dringend Mittel benötigt. In diesem Jahr existiert die Bühne 110 Jahre lang. Dieses Ereignis würde das Tilsit-Theater gerne feierlich begehen.

Julian Mühlbacher

Die Zuschauerplätze: Das Angebot ist größer als die Nachfrage

Das Tilsit-Theater: Eine Spielstätte mit großer Tradition

Der Regisseur: Jewgenij Martschelli
 
     
     
 
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