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Fernsehen in ferner Vergangenheit: In einem unterhaltsamen Rückblick auf das Jahr 1976 präsentierte das Dritte Programm von Berlin und Brandenburg (rbb) am späten Ostermontagabend unter anderem die erste Tagesschau-Sprecherin Dagmar Berghoff, die damals ihre Spätausgaben-Premiere mit den Worten beschlossen hatte: Es ist 22.57 Uhr, hiermit beendet das Erste Programm seine heutigen Sendungen ...
Heute, in unseren Zeiten totaler Rund-um-die-Uhr-TV-Berieselung, kann man sich das fast nicht vorstellen: Gegen elf Uhr, vielleicht auch am Samstag mal ein Stündchen später, war Programmschluß, man erfuhr in ganz unaufgeregter Sachlichkeit, was einen am nächsten Abend erwartete, durfte - dank des unermüdlichen Einsatzes von Gerhard Löwenthal und Wilfried Böhm - den damals noch vertrauten Klängen des Deutschlandlied es lauschen. Danach ging man - nein, nicht in die Disco, sondern ins Bett.
Und am nächsten Morgen trafen Arbeitgeber in ihren Betrieben auf richtig ausgeschlafene Mitarbeiter, Lehrer in den Schulen auf hellwache Schüler - glückliche Vor-Pisa-Zeiten. Heute schlafen TV-geschädigte Schüler im Unterricht, finden Bäcker, trotz alljährlich beschworener Lehrstellenkatastrophe, keine Auszubildenden, weil es den jungen Leuten nicht zumutbar wäre, zum rechtzeitigen Erreichen des Arbeits-/Ausbildungsplatzes den Fernsehabend vorzeitig abzubrechen.
In aller Regel war man, nach zwei bis drei Tagesschau- oder Heute-Sendungen, hinreichend informiert; Lücken füllte am nächsten Morgen die Tageszeitung. Der Zuschauer konnte sich schon deshalb auf "das Wesentliche" konzentrieren, weil die relativ knappe und teure Sendezeit noch nicht mit Unwesentlichem vollgestopft wurde.
Heute wird an einem ganz normalen Wochentag das (vermeintliche?) Informationsbedürfnis des Zuschauers allein an öffentlich-rechtlichen Sendeplätzen - also einschließlich aller Dritten Programme, Phönix, 3-Sat und der zusätzlichen digitalen Angebote von ARD und ZDF - mehr als einhundertmal gestillt. Hinzu kommen über 20 Nachrichtensendungen der privaten Sender sowie n-tv, N 24, CNN und BBC World mit "News" nahezu rund um die Uhr. Wer diese ganze ungehemmte Flut von Informationen mitbekommen will, muß weitgehend auf Schlaf verzichten, darf keine sonstigen Hobbies haben, kann sich den Luxus einer geregelten Erwerbstätigkeit auf gar keinen Fall leisten. Selbst dann aber hat man nur eine Chance, keine "wichtige" Information zu verpassen, wenn man über ausreichendes technisches Equipement verfügt; ein Fernseher mit "Bild im Bild" sowie zwei Video- oder DVD-Rekorder gelten als Minimum.
Empfehlenswert ist auch die Gründung sogenannter Info-Gemeinschaften (IG), die dann die schon als traditionell und überholt geltende Wohngemeinschaft (WG) ablösen könnten. Bei geschickter Programmierung aller verfügbaren Empfangs-, Aufnahme- und Wiedergabegeräte ließen sich dann sogar die über Kabel, Satellit und Internet erreichbaren Radioprogramme nahezu flächendeckend auswerten. Vermutlich arbeiten Software-Designer bereits an Computerprogrammen zur optimierten Ansteuerung möglichst vieler Nachrichtensendungen. Einschlägige Volkshochschulkurse dürften auch nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Wir leben eben im Informationszeitalter. Nichts auf dieser Welt bleibt uns mehr verborgen. Wir erfahren alles, natürlich in Farbe und Stereo, möglichst mit Dolby Surround. Und damit wir selber überhaupt noch merken, wie gut informiert wir sind, findet sich zu allem und jedem ein Experte, der uns erklärt, warum es für uns so wichtig ist, brandaktuell darüber informiert zu werden, daß in Timbuktu der Benzinpreis leicht nachgibt, während in Wladiwostok die Durchschnittstemperatur im März 2005 um 0,2 Grad über dem langjährigen Durchschnitt lag.
In Johannisburg ist ein Zebra aus dem Zoo entwichen, in Rio rechnen Analysten mit der Schließung von mindestens sieben Sambaschulen bis zum Jahresende, in Amerika wird das Klima noch immer nicht richtig "geschützt", in Berlin ist J. F. immer noch Minister, im Königreich Tonga hat Seine Majestät zwei Kilo abgenommen. Das mag ja alles wahnsinnig interessant sein. Aber ist es nicht mindestens genauso interessant, endlich zu erfahren, warum wir uns angeblich für das alles unbedingt interessieren müssen?
Anders gefragt: Was ist eigentlich, wenn wir - zum Beispiel an einem christlichen Feiertag - einfach alle Fernseh- und Radionachrichten ignorieren? Sind wir ohne Tagesschau und Heute, ohne Rundschau, RTL-News oder ZiB weniger glücklich, gerät unsere Lebensplanung durcheinander? Wer es einmal ausprobiert, stellt fest: Die Informationen, mit denen wir auf zig Kanälen rund um die Uhr überschüttet werden, sind zum allergrößten Teil völlig unwichtig und überflüssig. Die Nachrichtenflut nützt uns nichts; sie schadet sogar, indem sie uns der Fähigkeit beraubt, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.
Meinungsforscher haben vor einiger Zeit bei einem Experiment festgestellt, daß die meisten Menschen schon wenige Minuten nach einer Nachrichtensendung fast nichts mehr von dem soeben Erfahrenen wiedergeben können. Das weitaus Meiste plätschert an ihnen vorbei, wird gar nicht bewußt wahrgenommen, zumindest nicht "abgespeichert".
Eigentlich ist diese Erfahrung sogar tröstlich: Anders als der Computer, dem man jeden erdenklichen Schwachsinn auf die Festplatte bannen kann, ist das menschliche Gehirn nach wie vor fähig, im richtigen Moment abzuschalten. Die Gefahr: Außer vielem Unwichtigem bleibt auch einiges von den wenigen wichtigen Informationen auf der Strecke. Daher unser Tip: Statt der eigenen "grauen Zellen" lieber öfter mal TV und Radio abschalten!
Elisa Wachtner macht zur Zeit Urlaub, fernab von den Aufgeregtheiten deutscher und internationaler Politik. Daher erscheint statt seines an dieser Stelle gewohnten politischen Wochenrückblicks in den nächsten Ausgaben ein Blick zurück in die Medien - manchmal, aber nicht immer im Zorn.
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