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Wie gewohnt, fand auch in diesem Jahr die traditionelle Jahreshauptversammlung der Berufsweihnachtsmänner und -männinen in einem riesigen Saal statt. Zahlreiche ausländische Kollegen waren der Einladung gefolgt, um sich ein Bild von ihren Mitstreitern zu machen, die, was ihnen völlig fremd war und nicht in den Kopf wollte, von einer Weihnachtsmännin angeführt wurden.
Aller Augen richteten sich auf Christel, die Bundesvorsitzende, die, heute besonders apart gekleidet, hinter das Rednerpult trat. Zunächst die übliche Gedenkminute für die verblichenen Kollegen. Dann folgten Jahresrückblick, Kassenbericht, die Vereidigung der Absolventen der Weihnachtsmänner-Akademie und die Ernennung verdienter Kollegen zum Oberweihnachtsmann . Auch eine Weihnachtsmännin durfte sich einer Beförderung erfreuen. Ihr wurde ein Bezirk zuerkannt, denn sie hatte dort alles völlig neu organisiert, innovative Maßstäbe angelegt, die von den Kollegen anstandslos akzeptiert wurden.
Die ausländischen Kollegen kamen aus dem Staunen nicht heraus, wie selbstsicher Christel vor der Versammlung auftrat, und diskutierten angeregt während der kurz eingelegten Versammlungspause.
"Une femme admirable", bemerkte ein französischer Weih-nachtsmann. "Wäre gar nicht so übel, auch in unsere Reihen Frauen aufzunehmen, dann würde die Arbeit noch viel mehr plaisier machen."
"Right you are", pflichtete ein Engländer bei, "but I believe not that ..."
"Wir hatten auch zuerst Bedenken, Frauen in unsere Zunft einzureihen, doch die Erfahrungswerte sind absolut positiv", klärte ein deutscher Oberweihnachtsmann seine ausländischen Kollegen auf.
Ein ergrauter holländischer Kollege schaute etwas skeptisch und murmelte: "Ik wit niet zo juist. Frauen in Weihnachtsmannmontur! Das sieht doch komisch aus."
Schließlich kehrte im Saal Ruhe ein, und Christel konnte ihre Jubiläumsrede halten. "Liebe Kolleginnen und Kollegen", hob Christel mit ihrer zarten Stimme an. "Da wir heute glücklich sein dürfen, ausländische Kollegen unter uns zu haben, aus verschiedenen Konfessionen, fühle ich mich veranlaßt, einmal auf die Entstehung des Weihnachtsfestes und den Einsatz der ersten Berufsweihnachtsmänner zurückzublicken: Weih-nachten, also das Christfest, wird seit dem Jahre 354 am 25. 12. in allen christlichen Kirchen gefeiert. Christi Geburt. In Deutschland begehen wir den Heiligen Abend am 24. 12. Dann werden Geschenke ausgetauscht unter einem lichtergeschmückten Weihnachtsbaum, auch Christbaum genannt. Dieser Brauch begann sich erst seit dem 16. Jahrhundert durchzusetzen. Und seitdem gibt es wohl auch uns, die Weihnachtsmänner ..."
"Und seit wann gibt es Berufsweihnachtsmänner?" fragte einer.
"Seit etwa 150 Jahren", antwortete Christel und fügte noch hinzu: "Seitdem wird gewährleistet, daß auch alle Kinder pünktlich beschert werden. Ihr seid dafür verantwortlich, ihr nehmt häufig Strapazen auf euch, erfüllt ge- wissenhaft eure Pflicht und bringt den Kindern die Geschenke. Manche Kinder könnt ihr leider nur mit bescheidenen Gaben bedenken, aber vielleicht freuen die sich mehr darüber, sind glück-licher als jene, die mit den teuersten Sachen bedacht werden. Jedenfalls ist euer Beruf lobenswert und beständig."
"Geht ihr auch noch mit Schlitten - so wie bei uns - auf Tour?" wollte ein Weihnachtsmann aus der Ukraine wissen.
"Selten", sagte Christel. "Bei uns sind die Winter nicht mehr so verschneit, wie es zum Beispiel früher in Ostdeutschland war. Da lag der Schnee meterhoch. Vom Weih-nachtsmann wurde das Letzte abverlangt. Aber auch heute, im Zeitalter des Konsumrausches, vollbeladen mit technischen Geräten für einige Kinder, wird der Weihnachtsmann - und neuerdings auch die Weihnachtsmännin - hart gefordert. Eines darf ich jedoch mit ruhigem Gewissen verkünden: Dank unserer Umorganisation ist auch für das kommende Weihnachtsfest die Bescherung sichergestellt."
Ein Oberweihnachtsmann aus Friesland fragte: "Werden wir bestimmt unsere Touren schaffen? Ohne Aushilfskräfte?"
"Ihr schafft das garantiert", entgegnete Christel. "Ihr habt das gewissermaßen immer bewältigt. Und dafür danke ich euch. Ja, ich will euch in ganz außergewöhnlicher Form danken, euch auszeichnen."
Ein Raunen ging durch die Versammlung. Ein Novum! Zum ersten Mal sollten Weihnachtsmänner ausgezeichnet werden? Die Spannung stieg. Freundlich lächelnd schweifte Christels Blick über die Anwesenden. Sie schlug eine Mappe auf und lüftete das Geheimnis: "Es ist mir gewiß nicht leicht gefallen, die Favoriten herauszufinden. Verdient hättet ihr alle einen Orden. Sei es euch ein Ansporn, wenn ich nun die Ausgezeichneten nenne: Den Weih-nachtsmann-Treueorden am Bande erhalten die Kollegen Sommer, Kahlke und Lengwenat. Der goldene Gabensack als Anstecknadel geht an die Oberweihnachtsmänner Schubert, Premke, Borsowski und Stahmer. Diese Kollegen hatten trotz Schneesturms allen Kindern in ihrem Bezirk ihre Geschenke pünktlich auf den Gaben- tisch gelegt."
Aufbrausender Beifall. Sogar ein türkischer Delegierter war grenzenlos begeistert von Christels Idee und meinte: "Solche starken Frauen bräuchte unser Land."
Und Christel fuhr fort: "Natürlich sollten wir Weihnachtsmänninnen nicht hinten anstehen: Hannelore Blaschke erhält den silbernen Weihnachtsbaum und wird gleichzeitig zur Bezirksweihnachtsmännin befördert. Sie genießt das volle Vertrauen ihrer männlichen Kollegen. Ja, und jetzt eine ganz außergewöhnliche Auszeichnung, die nur einmal vergeben werden kann: der ,Goldene Schlitten , auf dem Preußenadler am Halsband zu tragen, an unseren Kollegen Muschketat, den Ältesten unter uns. Er ist noch seinerzeit in Ostdeutschland, den schwer beladenen Schlitten hinter sich herziehend, durch hohen Schnee gestapft und hat jederzeit seine verantwortungsvolle Mission erledigt. Wie alt Kollege Muschketat wirklich ist, verrät er leider nicht, sagte mir nur, daß er sich melden werde, wenn die Hundert überschritten ist."
Die Versammlung war beendet. Man ging zum gemütlichen Teil über. An der Bar wollte ein norwegischer Weihnachtmann von einem deutschen wissen: "Wie ist das denn so auf eurer Weih-nachtsmann-Schule? Ich meine: Männchen und Weibchen unter einem Dach?"
Der deutsche Weihnachtsmann grinste und sagte: "Lukrativ! In gewissem Sinne wird unser Weih-nachtsmann-Nachwuchs gesichert." - "Verstehe", schmunzelte der Norweger. "Wir sind noch immer sehr konservativ, aber das Modell werde ich vorschlagen."
Thea Weber: Winter in Ostdeutschland (Aquarell) |
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