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Die Partei ist tot Gott triumphiert

 
     
 
Die Frau, die ich an einem Novembertag des zurückliegenden Jahres, erster Schnee war gefallen, unverwandt einer Ikone in der Neuen Kathedrale des Moskauer Donskoi-Klosters zugewandt sah - Minute um Minute und in einer Körperhaltung, die zwangsläufig Schmerz nach sich ziehen mußte -, habe ich nie ganz gesehen, denn ihr Gesicht war von der Ikone verdeckt. Gestalt, Frisur und Kleidung der Frau verrieten, daß es sich nicht um eine Greisin handelte, nicht einmal um eine alte Frau. Aber alles zeigte, daß der Mensch, zu dem sie gehörten, mit seiner ganzen Existenz eine Wirklichkeit zu berühren suchte, die sich hinter dem Bild einer Heiligen verbarg, in der nicht nur Trost, sondern Rettung zu finden war: Rettung aus dem Unsichtbare
n, das sich für sie, die russisch-orthodoxe Christin, materialisierte in einem Bild. Jede Ikone - zeigt sie nun Christus, Maria oder Heilige - bringt nichts Geringeres als diese göttliche Wirklichkeit zum Ausdruck. Doch erst im Akt kirchlicher Weihe erlangt sie ihre volle Wirkung.

Im November 2004, da ich mich in Rußland auf die Spuren der so barbarisch verfolgten orthodoxen Kirche begebe, ist der Terror Geschichte. Nicht vergessen, aber vorbei. "Wir machen genau das, was wir seit 1.000 Jahren machen", sagt Sergej Zhitenev, der 52jährige Generaldirektor des Pilgerzentrums der Moskauer Patriarchie, lächelnd, ein studierter Historiker und Pädagoge.

Das Zentrum ist untergebracht im luxusfernen Hotel "Universitetskaya" am Michurinsky-Prospekt und bietet einfache Herberge der Verwaltung wie den Pilgern selbst, die nach Moskau kommen: "In 70 Jahren Sowjetmacht ist das Pilgertum nicht gestorben: Deshalb brauchen wir auch kein Programm, kein künstliches Schema. Alles hängt von den Gläubigen selbst ab."

Das Zentrum empfängt nicht nur Pilger, es organisiert auch Pilgerreisen, vorzugsweise nach Israel, ins "Heilige Land". "Pilgerreisen", sagt der Generaldirektor, seien nach orthodoxer Auffassung "geistliche Heldentaten". Darüber hinaus suche der Pilger "die Kraft des ortsgebundenen Gebets" und arbeite zudem freiwillig mit am Erhalt der heiligen Stätten. Die Pilgerbewegung im Land belaufe sich mittlerweile auf rund zwei Millionen Personen, auch verfüge sie seit 2001 über eine eigene Zeitschrift: Der rechtgläubige Pilger. Von den 145 Millionen Menschen in Rußland seien gut 80 Prozent in der orthodoxen Tradition erzogen. Sogar die Präsidenten Jelzin und Putin hätten schon an Pilgerveranstaltungen teilgenommen. Jelzin habe sogar stundenlang im Gottesdienst gestanden, auch sei er zur Beichte gegangen. Als "echte Gläubige" könne man im Moment zwar nur etwa 15 Prozent der Bevölkerung bezeichnen, aber die Zahl steige ständig. Zu Sowjetzeiten sei es lediglich ein einziges Prozent gewesen. Besonders stark sei der Zustrom von jungen Leuten, die unter 30jährigen machten inzwischen rund 40 Prozent der Gläubigen aus. Stolz fügt der Generaldirektor hinzu: "Waren es früher nur wenige Männer, die in die Kirchen kamen, sind es heute 30 Prozent, und die meisten, die kommen, nehmen heute an der ganzen Messe teil, viele sogar an der Beichte."

Der Generaldirektor des Pilgerzentrums weiß, wovon er spricht. Auch er ist ein Spätberufener. Vor 14 Jahren saß er noch zusammen mit Jelzin im Obersten Sowjet, heute glaubt er an Gott und managt für ihn. Während unseres Gesprächs gleitet geräuschlos und ununterbrochen eine Art Rosenkranz durch seine rechte Hand; es ist das traditionelle "Herzensgebet" der russisch-orthodoxen Kirche. Es soll mit seiner auf den Rhythmus des Atmens abgestimmten Wiederholung der Gebetsformel "Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner", das Zentrum des Menschen, das Herz, für die Gegenwart Gottes öffnen.

Ja, in Rußland wird wieder geglaubt. An Gott. Inbrünstig und offen. An die Partei glaubt kaum einer mehr. Die Partei ist tot, Gott triumphiert: In wiedererweckten Klöstern und wiedererrichteten Kirchen, in zahllosen Gottesdiensten und wachsenden Pilgerströmen, im Ansturm auf Priesterseminare und theologische Akademien, in Staatsakten und Privatfeiern. Der neue alte Glaube, der nie ganz verschwunden und erst recht nicht restlos vernichtet wurde wie beabsichtigt, ist zugleich Retter einer in tiefste Seelennot geratenen Gesellschaft, die ein quälend langes Dreivierteljahrhundert im Namen von Marx, Engels, Lenin und Stalin den Menschen zum Maß aller Dinge erhob und damit auf den Platz Gottes rückte, nur um katastrophal zu scheitern.

Es ist die Seelennot einer Gesellschaft, deren ideologische Verwüstung und physische Verheerungen nicht nur in die kaum noch begreifbare Schreckensstatistik eingegangen sind, auch Kunst und Literatur zeugen immer wieder davon, wie das Tagebuch der russischen Dichters Alexander Blok, wenn er unter dem 11. Juni 1919 festhält: "Was bei den Bolschewiken nicht zu leugnen ist - ihre außergewöhnliche Fertigkeiten, Lebensformen zu tilgen und einzelne Menschen zu vernichten ... Das ist Fakt. Voriges Jahr in Schuwalowo hat es mich erschreckt. Aber was dieses Jahr in Lachta zu sehen ist, ist unvergleichlich krasser. Von den Einwohnern sind fast keine mehr übrig, Datschenbewohner sind keine da ... Der Glockenturm in Olgino ist schon zugenagelt worden. An den Mauern haben sich die Inschriften vom Vorjahr erhalten, russische und deutsche. Von den zwei Ikonen, welche an die dürre Fichte geschlagen waren, ist die eine gestohlen und von der anderen nur die Einfassung übrig. Die Heiligengesichter entweder vom Regen abgewaschen oder auch abgekratzt."

Was für ein Gegensatz dazu, als ich am Morgen des 17. November 2004 Sergijew-Posad erreiche, jenen Ort, den Walter Benjamin vor fast 80 Jahren als entseeltes Klostergelände und eiskaltes Museum für Ausländer wahrgenommen hat. Die 40.000 Einwohner zählende Kleinstadt liegt ungefähr 70 Kilometer nordöstlich von Moskau. Sie hat sich, in idyllischer Hügellandschaft, um das Sergius-Dreifaltigkeits-Kloster herum entwickelt, das 1337 vom Heiligen Sergius, dem asketisch gesinnten Sproß eines Rostower Bojarengeschlechts, gegründet wurde.

Wer hierher kommt, kommt ins Herz der russisch-orthodoxen Kirche. Hier hat im 15. Jahrhundert Andrej Rubljow gewirkt. In Sergijew-Posad steht mit knapp 90 Metern Rußlands höchster Glockenturm. Hier, in den Anlagen des Klosterkomplexes, hatte der Zar eigene Gemächer, auch der letzte, Nikolaus II., der 1918 in seinem Verschleppungsort Jekaterinburg auf Befehl Lenins mit seiner ganzen Familie erschossen wurde. Heute ist er ein Märtyrer der orthodoxen Kirche. Hier wirkt die berühmte Geistliche Akademie.

Im Zentrum des Klosters leuchten die fünf Zwiebeltürme der Maria-Entschlafens-Kathedrale wie die Kulissen einer unwirklichen Märchenlandschaft in den winterlichen Himmel: vier von ihnen sind tiefblau, auf ihnen prangt eine Fülle goldener Sterne, der fünfte in der Mitte scheint, goldüberströmt, in Konkurrenz zur Wintersonne treten zu wollen. Vor dem Hintergrund des frisch gefallenen Schnees heben sich die schwarzen Kutten der Mönche, Nonnen und Priester, die zahlreich zwischen den nicht weniger zahlreichen Besuchern über das Klostergelände eilen, noch schärfer ab.

Wieder zu neuem Leben erwacht: Zu Stalins Zeiten wurde alles, was mit Religion zusammenhing, aus dem Straßenbild getilgt. Heute werden sogar neue Kirchen errichtet, alte renoviert. Doch der Panzer vor dem Moskauer Donskoi-Kloster erinnert an die dunklen Zeiten
 
     
     
 
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