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Die selektive Entrüstung

 
     
 
Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland 105 Kinder bis 13 Jahre Opfer von Mord, Totschlag oder Tötung auf Verlangen – so die offizielle Statistik des Bundeskriminalamts in Wiesbaden. Eine fürchterliche Zahl. Eine Welle des Entsetzens hätte unser Land überschatten müssen. 105 gewaltsam zu Tode gekommene Kinder! Dahinter verbergen sich 105 schreckliche Schicksale kleiner Menschen, denen das Leben brutal genommen wurde, bevor es richtig begonnen hatte. Dahinter stehen Mütter und Väter, denen das schlimmste widerfuhr, was Eltern angetan werden kann.

Die Welle des Entsetzens blieb aus. Gelegentlich gelangten grausame Einzelschicksale ans Licht der Öffentlichkeit, insbesondere, wenn dem Auffinden der Leiche eine quälende Suche, gar eine Entführung und Erpressung
vorausgegangen war.

All dies steht jedoch in keinem Verhältnis zu dem Aufruhr, den der Tod des kleinen Joseph in den vergangenen Tagen ausgelöst hatte.

Es genügte, daß die Mutter des 1997 ums Leben Gekommenen öffentlich behauptete, ermittelt zu haben, daß es eine "Horde von Neonazis" sei, die ihren Jungen auf dem Gewissen habe. 30 bis 50 "Glatzen" hätten ihn gequält, betäubt und ertränkt. Später schrumpfte die Zahl auf drei Tatverdächtige, die sofort festgenommen und öffentlich bloßgestellt wurden. Später mußten sie wieder entlassen werden, der Verdacht ließ sich nicht erhärten. Kontakte zur Neonazi-Szene bestanden auch nicht. Die drei jedoch werden nun für immer damit leben müssen, im Verdacht eines feigen Kindsmordes gestanden zu haben. So etwas wird man nie wieder los.

"Wie man den Fall Joseph sieht, sagt inzwischen viel aus über den Standpunkt der Betrachter – und wenig über den Fall selbst", kommentierte jetzt die linke "taz". Perfide läßt das Blatt offen, wie sie jene "Standpunkte" zuordnet. In der aufgehetzten Atmosphäre unserer Tage muß nämlich befürchtet werden, daß all jenen, die kategorisch Aufklärung fordern, bevor jemand oder eine ganze Gruppe öffentlich an den Pranger kommt, unterstellt werden könnte, mutmaßliche rechtsextreme Gewalttäter schützen zu wollen.

Ebendies charakterisiert unsere Zeit: Nicht Fakten zählen, nicht Wahrheit oder Unwahrheit, sondern der "Standpunkt des Betrachters". So ist selbst die politisch korrekte Falschbehauptung "moralisch", weil sie immerhin das vermeintlich Gute anstrebt. Wer hingegen unbequeme Wahrheiten sagt, ist verdächtig und hat mit gesellschaftlicher Ächtung zu rechnen. Der "Standpunkt" muß stimmen, nicht das, was man äußert oder tut.

Im "Fall Joseph" konnte bis Redaktionsschluß nicht einmal sichergestellt werden, ob es sich überhaupt um ein Verbrechen handelt. Bei den 105 im Jahre 1999 registrierten Fällen steht dies fest. Keine der betroffenen Mütter wurde vom Kanzler eingeladen.

Kann es angehen, daß tragische Todesfälle in Deutschland erst dann von Politikern wahrgenommen werden, wenn sie einen medienwirksamen Auftritt verheißen? Die Ahnungen, die kritische Beobachter befallen mögen angesichts einer überaus selektiven moralischen Entrüstung, sind stockfinster. Es darf nicht soweit kommen, daß der Tod eines Kindes gar als politische Munition mißbraucht wird, ohne daß derlei Mißbrauch einer Tragödie auf einhellige Ablehnung stößt. Alle kritischen Bürger sollten genauestens verbuchen, wann und wo öffentliche Empörung einsetzt und wo nicht. Es reicht, die kleingedruckten Polizeinachrichten der Lokalzeitungen zu studieren und abzuwarten, was passiert, respektive: ob überhaupt etwas geschieht. Für tiefes Mißtrauen haben sich seit dem Anschlag von Düsseldorf genügend Gründe angesammelt.

Wichtig ist echte "Zivilcourage". Die mußte zu allen Zeiten ein jeder aufbringen, der die Stirn hatte, falsche Moralapostel öffentlich zu entlarven. Kaum eine Spezies verfolgt ihre Kritiker nämlich mit solch fanatischem Eifer wie diese – sobald sie ertappt wird, wie sie auf hohem Roß ein ziemlich zweifelhaftes Spiel treibt. Solches zu entlarven ist keine Frage des (womöglich auch noch politischen) "Standpunkts", sondern der Pflicht zu Wahrheit und Aufrichtigkeit.Elisa Wachtner

 
     
     
 
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