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Wozu soll man neben der Bibel noch die »verborgenen«, die apokryphen Schriften lesen, die hier in einer Auswahl vorliegen? Ist nicht die Bibel schon so um fangreich, daß man kaum mit ihrer Lektüre zu Rande kommt? Steht nicht schon alles, was wir Christen wissen sollten, in der Heiligen Schrift? Diese Fragen wird sich wohl der eine oder der andere, der dieses Buch in die Hand bekommt, stellen. Mit diesem Buch sollen diese Fragen gerade beantwortet werden. Denn vieles was ganz selbstverständlich Teil unseres christlichen Lebens geworden ist, stammt gar nicht aus der Bibel, sondern aus den Apokryphen. Das fängt schon an mit dem Ochs und dem Esel an der Krippe des Jesuskindes, um ein bekanntes Beispiel zu nennen. Im NT werden sie nirgendwo erwähnt. Ebensowenig werden dort die Namen der Heiligen Drei Könige verraten. Auch vieles in der religiösen Kunst geht auf die Apokryphen zurück. Vor allem das Mittelalter hat seine Motive aus dieser Literat ur geschöpft. Besonders zu er wähnen sind Darstellungen der Verkündigung Mariens. Oft steht neben der den Tempelvorhang spinnenden Maria ein Krug. Was es damit auf sich hat, er fahren wir, wenn wir das Protevangelium des Jakobus lesen. Es liegen sich noch viele Beispiele nennen, aber der Leser wird sie selbst entdeckten, wenn er erst einmal angefangen hat, die hier ausgewählten Schriften zu lesen. jede der Schriften ist mit einer kleinen Einleitung versehen, in der sich Hinweise auf das Fortwirken in der Geschichte der Kirche finden. Es wurden in diese Auswahl nur Werke aufgenommen, deren Überlieferung es erlaubt, Erzählungen und Geschichten in einem sinnvollen Zusammenhang wiederzugeben. Die Sprache der Übersetzungen (die meisten Schriften sind in orientalischen Sprachen überliefert, manche auch in griechischer und lateinischer) versucht die Atmosphäre dieser längst vergangenen Zeit nachzuempfinden. Die Apokryphen zum Alten Testament (AT) bringen zwar im Vergleich zu den biblischen Erzählungen außer einigen Einzelheiten nicht viel Neues, sie ergreifen aber durch die Tiefe der Gedanken und den prophetischen Eifer. Der literarische Wert und das hohe Niveau in Fragen des Glaubens und der Sitten stehen oft dem kanonisierten AT in keiner Weise nach, so daß die Frage offen bleibt warum diese oder jene Apokryphe nicht zu den heiligen Schriften zählt. Die verborgenen Schriften zum NT sind im Vergleich zu jenen des AT im allgemeinen weder in inhaltlicher noch in literarischer Hinsicht gleichwertig. Dafür bieten sie anderes, weswegen sie für uns von höchstem Interesse sind.
Der Wert dieser Bücher Ihr Ziel ist es vielfach, christliche Inhalte volkstümlich zu gestalten. Manches will sogar nur Erbauungs- und religiöse Unterhaltungsliteratur sein. Doch erheben auch einige Werke den Anspruch, mit der Heiligen Schrift zu konkurrieren. Die Ernsthaftigkeit dieses Unterfangens zeigt sich dadurch, daß vieles, was inzwischen als apokryph verworfen ist, lange Zeit weiteste Anerkennung in der Kirche fand. Deswegen helfen besonders die neutestamentlichen Apokryphen, die geistige und religiöse Entwicklung des jungen Christentums zu erhellen. Der häufig volkstümliche Charakter gibt einen Einblick in den Glauben vieler Menschen. Sie sind theologisch nicht so tiefsinnig wie die Bücher eines Lukas oder Johannes. Ihren Ursprung haben sie in den vielen christlichen Gemeinden, die meist viele verschiedene Auffassungen zum christlichen Glauben hatten. Irrlehren hatten sich ausgebildet, Unwesentliches wurde zum Wesentlichen gemacht und Neues hinzuerfunden. Mit alldem hat sich die junge Kirche auseinandergesetzt, und es bedeutete einen langen und harten Kampf , bis der reine und wahre Glaube in Form der uns überlieferten Heiligen Schrift vorlag. Diesen Prozeß ein wenig zu durchschauen, das könnte der Hauptgewinn für den Leser der neutestamentlichen Apokryphen sein. Kontrastiv wird in den Einleitungen deswegen auf entsprechende Schriften des NT eingegangen. Durch diesen Vergleich können wir vielleicht auch die Bibel selbst besser verstehen und ihren hohen religiösen und sittlichen Wert schätzen lernen.
Das Apokryphe ... Es war bis jetzt immer die Rede gewesen von der Unterscheidung zwischen Apokryphen und Heiliger Schrift. Was versteht man nun eigentlich unter den Apokryphen? »Apokryph« ist ein griechisches Wort und bedeutet verborgen, geheim. Auf Schriften wurde dieses Adjektiv zuerst von den Gnostikern angewandt. Sie behaupteten, »bibloi apokryphoi« (verborgene Bücher) zu besitzen. Nach gnostischer Lehre durfte kein Außenstehender Einblick in die »geheimen Bücher« nehmen. Ähnlich wie in den orientalischen Mysterienkulten sollten die Eingeweihten aufgrund von Geheimwissen das Heil erlangen. Die Kirche lehnte die gnostischen apokryphen Bücher als Irrlehren ab. Von da ab übertrug sie den Begriff apokryph auf alle religiösen Schriften, die sie nicht zur Lesung in den Gemeinden zuließ. Nachträglich wurden dann auch die Bücher, die nicht ins AT aufgenommen worden waren, als apokryph bezeichnet.
Kanonisch und apokryph Die Bücher des AT und NT, die öffentlich an den Kultstätten, seien es Tempel oder Kirchen, vorgelesen wurden, erhielten auch die Benennung kanonisch. So kann man umgekehrt sagen, daß alles, was nicht kanonisch ist, apokryph ist. Kanonisch ist das Adjektiv zu dem griechischen Wort Kanon. Es bedeutet Katalog oder Regel, Richtschnur. Kanonisch sind somit Schriften, die entsprechend dem zweifachen Sinn des griechischen Begriffs entweder in den Katalog der heiligen Schriften aufgenommen wurden oder als Leitfaden des Glaubens und der Sitten gelten konnten, da sie als von Gott inspiriert angesehen wurden.
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