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Ein geschenkter Tag

 
     
 
Ende September brach noch einmal tropische Hitze herein. Vierzehn Tage lang hatte es fast ununterbrochen geregnet, und mit stürmischen Winden hatte sich der Herbst angekündigt, hatte die vergilbenden Blätter von den Bäumen gefegt, und die hatten in dicken Lagen, naß, zusammengeklebt, sich in Klumpen an die Klumpen geheftet. Nun aber noch einmal Sommer! Geschenk des Himmels, denn es gab noch eine Menge zu tun, bevor der Winter kam.

Nicht alle Felder waren schon gepflügt worden, und auf einigen Stoppelfeldern hatte Berta noch Ähren nachlesen wollen. Aber die waren wohl nun vor Nässe verdorben. Auch die Kartoffeln mußten geerntet werden. Die Rüben hatten noch Zeit.

Die Blätter, vor Tagen nasse Schichten bildend, waren in der heißen Sonne zu goldenen Mäusen geworden und trieben trocken über den Hof und sammelten sich in der Ecke im Stall. Die Kinder zogen mit ihren Badesachen noch einmal zum Fluß, im Beutel Brot und Flaschen mit Saft. Sie hatten es nicht weit. Am nahegel
egenen Kirchhof links vorbei, über die abfallende Wiese runter und schon waren sie da. Über dem Fluß und dem nicht weit entfernten See dampfte es, und die Sonne schien wie durch einen Schleier. Wie herrlich, sie zu spüren!

Was konnte man an diesen geschenkten Tagen nicht alles unternehmen! Vielleicht nach den letzten reifen Beeren an den nur ihr bekannten Stellen sehen? Ob es sich nicht doch lohnte, über ein Stoppelfeld zu gehen? Der Beutel, den sich Berta dafür genäht hatte und den sie sich wie eine Schürze umbinden konnte, hing noch in der Veranda. Sie konnte aber auch in den Garten gehen, der durch den Regen gelitten hatte. Der Phlox sah sehr mitgenommen aus. Gut standen die Mombrezien, die Gladiolen zum größten Teil umgeknickt. Was denn nun Berta, was zuerst?

Glücksgefühl überkommt sie. Es ist ein Tag, wie er sein muß im Spätsommer. Auch sie ist im Spätsommer ihres Lebens. Erlebt sie nicht deshalb diese Tage so intensiv? Oder ist es das Wissen, daß nicht alles so bleiben wird? Sie geht zum Hühnerstall und öffnet den Verschlag. Erst zögernd, dann aber strebt das Federvieh in die Freiheit.

„Der Pfau hat seine Federn verloren“, hatte Evchen gesagt, als sie den Hahn zum erstenmal gesehen hatte. Evchen war aus dem fernen Berlin für einige Monate zu ihnen geschickt worden. Evakuieren nannte man das, und die Kinder hatten geglaubt, das hinge mit dem Namen des Mädchens zusammen. Sie hatten sich erst aneinander gewöhnen müssen. Aber nun war sie eine von ihnen und wußte Hahn und Huhn zu unterscheiden.

Der Pfau hat seine Federn verloren, hatten sich die Kinder gemerkt, und als es so überraschend Herbst geworden war, hatten sie gegen Abend ihre alte Gewohnheit aufgenommen und aus zusammengesuchten Wörtern sich von Berta Geschichten erzählen lassen. Meistens wurden sie so lang, daß die Geschichte kein Ende nehmen wollte, und erst, nachdem sie versprochen hatte, am nächsten Tag gehe es weiter, ließen sie sich zu Bett bringen. Am nächsten Tag hatte sie aber längst vergessen, was sie da erzählt hatte und wo sie stehengeblieben war. Nicht die Kinder! Und so schummelte sie sich von Geschichte zu Geschichte.

Aber die Hitze hatte dieser winterlichen Anwandlung ein Ende gesetzt. Berta geht zum Stall und läßt die beiden Schweine raus. Wie lieben die es, sich am Bretterzaun zu schubbern. Der ist schon ganz schief davon. Sie muß einfach ihrem Gefühl nachgeben. Welch ein Glück zu leben! Dabei ist der Krieg nahegerückt. Er wird doch nicht?

Jetzt holt sie den Sack mit den schon gesammelten Ähren und den Flegel und fängt an, den Sack zu bearbeiten. Die Körner, reif und trocken, fallen leicht aus den Ähren und es dauert nicht lange, da steht Berta am Giebel des Hauses im Wind und läßt ihn die Spreu vom Weizen trennen, während die Hühner und der Pfau ohne Federn es sich in dem, was auf der Erde liegt, gutgehen lassen.

Die Nachbarin geht am Zaun vorbei, bleibt bei den Dahlien stehen und meint, es seien mindestens 34 Grad im Schatten. Ja, sagt Berta, es sei sehr warm. Aber wir brauchen das. Sie hat sich um Grade nie gekümmert, brauchte nie ein Thermometer, auch keine Uhr. Sie hatte die Zeit im Kopf und im Gefühl. (In 50 Jahren würde man das „feeling“ nennen.) Alles ist, wie es sein muß, findet sie. Warum so viele Worte machen? Innerlich spürt sie ganz stark, was auch kommen mag, sie, die als letzte einer Reihe von Frauen, deren Quintessenz sie ist, dieses Stück Erde wird verlassen müssen, wird nicht untergehen. Warum also so viele Worte machen?

Das alles ist nun lange her. Wo der Garten war, ist heute eine Straße, und wo der Kirchhof war, steht heute eine Siedlung, und dort, wohin die Kinder zum Baden gingen und wohin auch die Pferde zur Tränke geführt wurden, ist heute der Fluß mit Mummeln zugewachsen, aus denen sich die Kinder damals Ketten machten. Immer, jedes Jahr, wenn der Herbst diese geschenkten Sommertage großzügig verteilt, erinnert sich die alte Frau an diese kurze Spanne Zeit zu Hause. Es war, als ob sich alles, das ganze Leben in diese Tage drängte, sich verdichtete zum Loblied des Lebens schlechthin. Das Jahr, fast vorüber, erfährt Fülle, in die alles eingeht, schlangengleich. Wie schön, denkt sie, wie schön ...

Gerhard Hahn: Die Burg zu Allenstein (Öl, 2000)

 
     
     
 
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