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Ein sportliches Vorbild

 
     
 
Es ist ein weiter Weg, bis man Urgroßmutter wird. Ein Weg, auf dem einem das Leben Gutes und Schlimmes zukommen läßt. Mir gab das Leben zwei gesunde Kinder und sechs Enkelkinder. Es nahm mir Haus, Hof und Heimat. Die Jahre vergingen und forderten ihren Tribut. Die Knochen wollten nicht mehr so recht und bedurften der Unterstützung von Krücken, aber die Lust am Ungewöhnlichen blieb. War es sicher keine Freude für den Förster, daß ich nicht mehr auf geraden Wegen blieb, sondern oft durch die Gestelle strolchte, die jungen Bäume von den Schlingpflanzen bef
reite und die Luderschächte inspizierte, so waren jetzt diese „Untaten“ etwas geringer geworden. Ich wußte, daß es zwischen den Häusern einer Straße Durchlässe in den Wald gab. Also warum sie nicht nützen?

Als ich ans Ende der Häuser und Hausgärten kam, war plötzlich der Weg durch Stacheldraht verschlossen. Zurückgehen? Wozu? Ich warf meine Krücken rüber und mußte ja nun hinterher. Der Hausgartenzaun hatte keine Stacheln, ein schneller Blick, ob mich keiner sah, und dann über den Zaun gehangelt, die Krücken aufgenommen und dann weitergegangen. Es mußte ja der Hauptweg kommen.

Ich hatte nicht gewußt, daß beim letzten Sturm so viele Bäume gefallen waren. Sie waren schon weggeschafft, aber die leicht von Schnee bedeckten Wurzellöcher waren da. Also aufgepaßt, der Hauptweg konnte ja nicht weit sein. Als ich ihn erreichte, stellte ich fest, daß er mit Maschendraht abgesperrt war - was nun?

Ich ging ein Stück entlang, in der Hoffnung, daß wie bei den Neuanpflanzungen für die Förster einige Aufstiegssprossen angebracht waren. Aber Fehlanzeige! Und Stützpfähle ohne Trittpfosten waren zu glatt, um sie zu betreten. Also suchte ich eine Stelle, wo das Schwarzwild sich schon unten durchgewühlt hatte, und wollte da hinterherkriechen. Leider auch Fehlanzeige. Kein Schwarzkittel war in dieses stadtnahe Waldstück vorgedrungen. Was blieb zu tun?

Ich sah mich um, kein Mensch war zu sehen. Also warf ich meine Krücken wieder voraus und mußte hinterher. Ich zog den Draht runter, soweit es ging, und mit Unterstützung des Maschendrahts saß ich schließlich auf dem oberen starken Draht. Es war nicht bequem! So legte ich mich vorsichtig auf den Bauch, schwang erst das eine Bein rüber und dann mit etwas zusammengebissenen Zähnen das zweite Bein. Das war geschafft, und gesehen hatte mich auch niemand.

Ich nahm meine Krücken und ging auf den Hauptweg. Mit ein paar Tannenzweigen kam ich dann nach Hause, um mir bei einer Tasse Tee leicht schmunzelnd klar darüber zu werden, daß dies für eine Urgroßmutter im fortgeschrittenen Alter sicher nicht vorbildlich gewesen war.

 
     
     
 
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