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Daß die deutschen Verteidiger nach der alliierten Invasion kaum Ersatz erhielten, lag weniger an der Unterbrechung der Verkehrswege denn daran, daß die Heeresgruppe Mitte ab 22. Juni unter der sowjetischen Großoffensive wankte und schließlich zusammenbrach. Das Übergreifen dieser Offensive auf die Heeresgruppe Nord und der sowjetische Durchbruch nach Südpolen ab 13. Juli schufen eine größere Bedrohung als die Niederlage im Westen. Diese Gefahr veranlaßte die Deutschen zur Heranführung aller namhaften Reserven an die Ostfront , um das Reichsgebiet vor dem Eindringen der Roten Armee zu schützen. Der Zusammenbruch großer Teile der Ostfront kam für die deutsche Führung völlig überraschend, da man die sowjetische Sommeroffensive südlich des Pripjet erwartet hatte, dort starke Reserven konzentriert hatte und daher einen Abwehrsieg erhoffte. Es gelang nur ansatzweise, den sowjetischen Aufmarsch aufzuklären, so daß man an der Mittelfront höchstens mit Fesselungsangriffen rechnete.
Diese falsche Lagebeurteilung ist eine Hauptursache der späteren Katastrophe, die auf die gesamte Ostfront übergriff. Generalfeldmarschall Busch, der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte, verfügte nur über 41 Divisionen und zwei Kavalleriebrigaden, nachdem er ein Panzerkorps an den südlichen Nachbarn hatte abgeben müssen. Deshalb entfiel auf jede Frontdivision eine durchschnittliche Breite von 25 Kilometern, was ein großes Risiko darstellte. So standen pro Frontkilometer nur rund 80 Mann in vorderer Linie. Außerdem hatte man im tiefen Hinterland, etwa an der Beresina, keine Auffangstellung vorbereitet, und die Einrichtung von "festen Plätzen" entzog der Hauptfront wertvolle Kräfte, die im Fall eines Feinddurchbruchs eingeschlossen wurden. Es hätte sich daher ein rechtzeitiges Absetzen hinter die Beresina Hand in Hand mit einer Zurücknahme der 2. Armee im Pripjetgebiet angeboten. Man hätte damit eine Frontverkürzung um 160 Kilometer und mehr Sicherheit vor den Partisanen gewonnen. Das Oberkommando der Heeresgruppe Mitte versuchte zwar, die vordere Linie durch ein tiefes Stellungssystem zu stärken, doch blieben die ärgsten Nachteile - schwache Infanterie, sehr wenige Reserven, mangelnde Luftverteidigung - bestehen. Generalfeldmarschall Busch war aber nicht der Mann, um Hitler schonungslos die Konsequenzen einer Niederlage aufzuzeigen, sondern begnügte sich mit zaghaften Bedenken.
Der sowjetische Generalstab hatte außergewöhnliche Anstrengungen zur Vorbereitung der Angriffe nördlich und südlich des Pripjet unternommen. Das Hauptquartier und Stalin hatten Ende Mai dem Vorschlag zugestimmt, an sechs Abschnitten mit sehr hoher Truppendichte und Feuerkraft anzugreifen und den Durchbruch zu erzwingen. Ein ausgeklügeltes Verfahren sollte die Angriffswucht nähren und die Durchbruchstellen erweitern. Erst zu diesem Zeitpunkt sollten die Panzerkorps zum Stoß in die Tiefe eingesetzt werden. Es ist bemerkenswert, daß der sowjetische Generalstab zunächst die Aufspaltung der deutschen Fronttruppen anstrebte und erst dann an ihre Vernichtung in weiträumigen Operationen dachte.
Die Rote Armee aktivierte zunächst zahlreiche Partisanenverbände im deutsch besetzten Hinterland, die ab 20. Juni umfangreiche Sprengungen durchführten und den Nachschub fast zum Erliegen brachten. Am 22. Juni morgens setzte ein gewaltiger Feuerschlag der Artillerie gegen die 3. Panzerarmee ein, und starke Stoßtruppen überwanden an zwei Abschnitten, unterstützt durch zahlreiche Kampfflieger, die taktische Verteidigungszone. Am nächsten und übernächsten Tag wurden die 4. und die 9. Armee nach dem gleichen
Verfahren durch wuchtige Angriffe getroffen. Bereits am Abend des 24. Juni beurteilte das Oberkommando der Heeresgruppe die Lage besorgt, verlangte ein örtliches Absetzen und die Zuführung von Verstärkungen. Ein weiträumiger Rückzug wurde nicht erwogen, da man die sowjetischen Angriffe nur als Fesselungsaktionen bewertete. Doch genehmigte Hitler ein begrenztes örtliches Ausweichen.
Erst am 26. Juni erkannte Busch die höchstdramatische Lage, flog zum Hauptquartier Hitlers bei Rasten-burg und erhielt die Genehmigung zum schrittweisen Absetzen der 4. Armee auf die Beresina und der 9. Armee auf Bobrusk. Hitler bestand aber auf dem Halten von zwei "festen Plätzen", da er sich von ihnen eine "Wellenbrecher"-Funktion versprach. Tatsächlich befanden sich drei sowjetische Armeen bereits tief im Hinterland und stießen in Richtung Beresina vor, während auf dem Südflügel die deutschen Stellungen im Rücken umgangen wurden. Von einem geordneten Rückzug konnte keine Rede mehr sein. Der 4. und der 9. Armee drohte die Einkesselung. Bei Vitebsk ging ein eingeschlossenes Armeekorps der Vernichtung entgegen. Teile der 3. Panzerarmee kämpften erbittert, um die Verbindung zur Heeresgruppe Nord zu halten, da sich an der Düna die Gefahr einer Trennung beider Heeresgruppen abzeichnete. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte die Lage einen schnellen, weiträumigen Rückzug erfordert.
Doch niemand wagte, diesen Entschluß zu fassen. So diktierte die Rote Armee weiterhin das Gesetz des Handelns. Sie schloß die Masse der Heeresgruppe, die sich verzweifelt in Richtung Minsk zurückkämpfte, ein und rieb sie auf. Die sowjetischen Angriffsspitzen drangen ungehindert südlich der Düna vor und drohten, die Heeresgruppe Nord von Süden her zu umfassen, die jedoch nicht zügig ausweichen durfte. Bei der 9. Armee schaffte nur eine Kampfgruppe mit rund 15.000 Mann den Ausbruch. Hitler setzte Busch ab und übertrug den Befehl an Generalfeldmarschall Model, der seit dem 29. Juni die Heeresgruppe Mitte neben der Heeresgruppe Nordukraine führte. Model zog sofort drei Panzerdivisionen von seinem bisherigen Befehlsbereich ab, doch konnten diese Verbände den gegnerischen Vormarsch nur verzögern. Am 8. Juli, als die Sowjets bereits vor Wilna standen, kapitulierten die Reste der Eingeschlossenen. Insgesamt ging die Masse von drei Armeen mit 28 Divisionen verloren, etwa 330.000 Mann: eine militärische Katastrophe, die jene von Stalingrad weit übertrifft. Nur wenige Rückkämpfer schlugen sich bis zu den deutschen Linien durch.
Die zertrümmerte Heeresgruppe konnte den sowjetischen Vormarsch dennoch an der Weichsel, vor Warschau und an der Grenze Ostdeutschlands bis Mitte August auffangen. Diese Leistung ist der Tapferkeit der intakten Truppenteile, den eintreffenden Verstärkungen und der Führungskunst Models zu verdanken. Er wandte ein Verfahren an, das aus Gegenangriffen, Ausweichen und Verzögerung bestand. Die deutschen Verbände bekämpften die sowjetischen Angriffsspitzen, brachen ihren Schwung, wichen rechtzeitig aus und führten dann Flankenangriffe. So wurde Zeit gewonnen, um eine verkürzte, wenn auch nur dünne Front aufzubauen. Es gelang auch im Laufe des August, mit frischen Reserven die Verbindung zur fast abgetrennten Heeresgruppe Nord in Litauen wiederherzustellen, wodurch vorübergehend eine Festigung der Lage eintrat.
Da Model inzwischen von der Heeresgruppe Nordukraine die meisten Reserven abgezogen hatte, mußte man auch in Galizien ab dem 13. Juli eine Niederlage hinnehmen, die aber weniger dramatisch ausfiel als die der Heeresgruppe Mitte. Immerhin setzte die sowjetische Führung zehn Armeen ein, um nach Südpolen bis zur Weichsel durchzubrechen. Im Abschnitt ostwärts von Lemberg hatte die 1. Panzerarmee eine stark ausgebaute "Großkampfzone" angelegt, die so weit von der Hauptkampflinie abgesetzt war, daß der erste Feuerschlag des Angreifers unwirksam verpuffte. Die Infanterie räumte die vordere Linie in der Nacht vor der erkannten Offensive, während Nachhuten die Besetzung der Stellungen vortäuschten. Es gelang, die Wucht des Angriffs zu brechen und den Gegner tagelang in der Großkampfzone festzuhalten. Darauf verlegte er sein Schwergewicht auf den nördlich anschließenden Abschnitt, wo ihm schließlich der Durchbruch unter Einschließung eines Armeekorps gelang. Obwohl mehrere Entsatzversuche unternommen wurden, gerieten rund 30.000 Mann in Gefangenschaft. Hierauf zog sich die 1. Panzerarmee geordnet auf die Karpaten zurück, wogegen es weiter nördlich erst nach Zuführung von Panzerreserven im August gelang, die sowjetischen Brückenköpfe an der Weichsel einzuengen. Es zeigte sich, daß auch die sowjetischen Verbände infolge des weiten Vormarsches viel von ihrer Stoßkraft verloren hatten. Hier blieb die Front bis zum 12. Januar 1945 unverändert.
Somit entstand im Laufe des August wieder eine zusammenhängende Front zwischen der Ostsee und den Karpaten, wogegen man am äußersten Südteil der Ostfront ab 20. August eine weitere vernichtende Niederlage hinnehmen mußte. Die zum Schutz Rumäniens eingesetzte Heeresgruppe Südukraine sollte aus politischen Gründen ihre vorgeschobene Position halten, wofür sie große Nachteile in Kauf nahm. Immerhin hatte sie fast alle Reserven zur Stützung der übrigen Ostfront abgeben müssen. Der doppelseitige Angriff von elf sowjetischen Armeen zertrümmerte in wenigen Tagen die deutsch-rumänischen Truppen und führte am 23. August zum Sturz von Marschall Antonescu und zum politischen Seitenwechsel Rumäniens. Die 6. Armee und Teile der 8. Armee gingen mit rund 180.000 Mann verloren. Damit war auch der Verlust des rumänischen Erdöls verbunden, das zuletzt 22 Prozent des deutschen Erdölbedarfs gedeckt hatte. Mit diesem Erfolg stand der Roten Armee der Weg ins Pannonische Becken und in Richtung Belgrad offen.
Die Ostfront: Vor der großen sowjetischen Sommeroffensive 1944 Karte: Magenheimer
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