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Eisblumenlandschaft

 
     
 
Die Fensterscheibe war mit einer zarten, glitzernden Eisschicht überzogen. Wenn man genau hinsah, waren es nicht nur Blüten und Farnkräuter, man konnte eine ganze Landschaft herausrätseln, kleine Tannen, schlafende Häuschen, einen zugefrorenen See. Die junge Frau am Fenster berührte die Landschaft mit ihren Fingerspitzen und streichelte sie ein wenig. Vor Jahren, dachte sie, bin ich durch eine solche Landschaft gegangen.

Die kleine Landschaft wurde lebendig. Der Bahnhof stand darin wie eine frierend zusammengeduckte Katze. Die Signallampen waren die Augen dieser Katze, die schläfrig in den sehr frühen Morgen blinzelten. Die junge Frau kletterte aus einem Zug, der Zug fuhr nicht mehr weiter, es stieg niemand aus außer ihr und es holte sie auch niemand ab. Wenn sie ihn nur fortlassen, dachte sie und sah auf die verschneiten Gleise. Als sie sich umdrehte, stand er vor ihr. „Ich konnte nicht eher weg“, sagte er. „Und dann muß man von der Kaserne bis zum Bahnhof eine halbe Stunde laufen.“

Sie gingen ganz langsam in die Stadt hinein. Es war eine kleine Stadt, sie atmete ruhig im frühen Licht, nichts deutete darauf hin, daß das Meer von Feuer und Eisen vielleicht morgen schon über sie hereinbrechen würde. Aus ihren Schornsteinen stiegen friedvolle kleine Rauchsäulen. Sie kamen auf den Marktplatz, die Spatzen schilpten frech und hungrig um den Brunnenrand, vom Kirchturm schlug es sieben. Vor dem Hotel „Masurischer Hof“ blieben sie stehen. Es sah uralt und verwunschen aus, wie alle Häuser ringsum. „Hier wohnst du heute“, sagte er. „Mein Zug geht nachts um drei“, sagte sie. „Nachts um drei“, sagte er, „das sind doch noch zwanzig Stunden.“ Am Nachmittag wanderten sie wieder aus der Stadt hinaus. Links und rechts
vom Weg standen kleine Tannen. Eine gefiel ihm ganz besonders. „Weißt du“, sagte er, „sie erinnert mich an ein vergnügtes Bauernmädchen, das am Sonntag mit steifgestärktem Rock zum Tanz geht.“ „Würdest du sie wiedererkennen, wenn du später einmal hier vorbeigehst?“ „Ja“, sagte er. „Ich würde sie sofort wiedererkennen. Und dann würde ich dabei an dich denken müssen.“

Der Wald gehörte nur ihnen. Er war funkelnd und unsagbar still und schön. Dann öffnete er sich in einem großen Bogen und zeigte ihnen den See. Irgendwo, in der grauen Luft, riefen Vögel über dem Eis. Sie kamen aus den Wäldern des diesseitigen Ufers und verloren sich in den Wäldern des jenseitigen Ufers. Die Dämmerung fiel, und es begann zu schneien. Am östlichen Himmel zuckten Lichtbänder auf, ganz kurz nur, und sie versanken sofort wieder, als hätten die fallenden Flocken sie ausgelöscht. „Das sind die anderen“, sagte er. „Sie sind noch ziemlich weit weg.“ „Meinst du, sie könnten heute nacht durchbrechen?“ „Sie könnten; aber es ist sehr unwahrscheinlich.“

Sie sah über das Eis hin. „Ich möchte mit dir über den See gehen“, sagte sie, „immer weiter, in die große Weite hinein ...“ Seine Augen wurden traurig. „Ich auch“, sagte er. Und dann versuchte er, einen Scherz zu machen. „Wir würden uns doch nur kalte Füße holen, weißt du ...“

Eine neue kleine und sehr ferne Lichtgarbe zuckte auf und verlosch. Der Zug wartete im Dunkel, aber es stieg niemand ein außer ihr. Als er sich in Bewegung setzte, beugte sie sich vor und sagte zu dem Mann auf dem Bahnsteig: „Denk an die kleine Tanne ... Du weißt doch - wenn du noch einmal dran vorbeigehst.“ „Ja“, sagte der Mann. „Ich werde an dich denken, wenn ich zu ihr gehe.“ Dann fiel er in die Schwärze der Nacht zurück.

Die junge Frau am Fenster strich noch einmal über die Eisblumenlandschaft hin, und ihr Gesicht wurde plötzlich ganz alt. 

Aus „Das silberne Fräulein“, Verlag Gerhard Rautenberg, Leer, 1978.

Tamara Ehlert wurde am 28. Dezember 1921 in Königsberg geboren. Ihre Gedichte und Erzählungen erschienen in zahlreichen Anthologien, Zeitungen und Zeitschriften. Mehrfach wurde sie für ihr Schaffen mit Preisen ausgezeichnet.

Winter in der Heimat: Neujahrsschnee bei Allenstein Foto: Gabriele Wolff

 
     
     
 
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