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Erinnern Sie sich an Deutsche ?

 
     
 
Die Siedlung am Sportplatz scheint der einzige Stadtteil Gerdauens zu sein, der komplett erhalten ist; von den Doppelhäusern aus der Mitte der 30er Jahre fehlt wohl keines. Einen Vergleich mit früher habe ich allerdings nicht, denn da ich erst viele Jahre nach dem Krieg geboren bin, konnte ich das unzerstörte Gerdauen nie kennenlernen. Das, was von der Stadt übriggeblieben ist, besuche ich jetzt zum zweiten Mal. Was mich in diese abseits gelegene Siedlung geführt hat, ist die Nachricht, daß hier zwei Russen wohnen sollen, die schon in der Nachkriegszeit
nach Gerdauen kamen. Über eben jene Zeit hoffe ich etwas von ihnen zu erfahren. Mein Besuch am heutigen Nachmittag gilt demjenigen dieser beiden alten Männer, der neben den allgemeinen Erfahrungen jener Epoche wohl auch persönlich über eine bemerkenswerte Geschichte verfügt; wobei es aber ziemlich fraglich ist, ob er davon etwas preisgeben wird.

Wir fahren den Broloster Weg entlang, der mitten durch die Siedlung führt, rechts und links schauen rote Ziegeldächer aus zum Teil sehr üppigem Grün. Es muß fast wie früher sein, und doch erinnern die ungepflegten Lattenzäune und der schlechte Zustand der Straße, die halb aus Straßenpflaster, halb aus zerkarrtem Matsch besteht, eher an romantische Gemälde aus dem alten Rußland.

Neben meinem Fahrer begleitet mich eine Russin, Vera, die als kleines Kind Ende der vierziger Jahre mit ihren Eltern nach Gerdauen kam und in dieser Stadt ihre Kindheit und Jugend verlebte. Sie ist zu Besuch hier und, wie ich, an der Geschichte Gerdauens interessiert. Als Deutschlehrerin kann sie alle meine Gespräche fließend übersetzen.

Vera fragt aus dem Autofenster ein paar Leute, die mit Eimern in den Händen vorübergehen und den Eindruck ländlichen Lebens erwecken. Sie fragt nach der Wohnung von Poljakow, so heißt der Mann, den wir aufsuchen wollen. Die Leute weisen uns in die linke Parallelstraße, das wievielte Haus es ist, haben wir nicht verstanden, denn unser Fahrer ist schon weitergefahren. Aber in der nächsten Straße finden wir erneut Gelegenheit zu fragen, weil die Sonne die Menschen überall vor die Häuser gelockt hat. So nähern wir uns schließlich dem Haus, in dem Poljakow wohnt, und unsere Unsicherheit wächst, ob er auf unsere Fragen antworten wird.

Den Hinweis auf Alexander Stepanowitsch Poljakow hatte ich in der Innenstadt erhalten, und zwar von einem der ganz wenigen Menschen, die wie er schon kurz nach dem Krieg nach Gerdauen kamen. Er erzählte, daß Poljakow damals – zu jener Zeit Soldat der Roten Armee – in einem Kinosaal arbeitete, den die Sowjets im evangelischen Gemeindehaus eingerichtet hatten. Das Außerordentliche dabei war, daß er mit einer Deutschen zusammenlebte: Herta. Er und Herta lebten wie ein Ehepaar, und Herta bekam von ihm ein Kind. Daraufhin zwangen die Sowjets Herta zur Ausreise. Das Kind sollte ihnen weggenommen werden. Es gab verzweifelte Szenen, weil sich die beiden nicht von ihrem Kind trennen wollten. Aber es half nichts. Herta mußte ausreisen, und das Kind wurde nach Königsberg in ein Waisenhaus geschafft.

Diese Geschichte hatte ich schon einmal gehört, und zwar von drei Deutschen, die als halbwüchsige Jungs im Gerdauen der Nachkriegszeit für die Sowjets als "Spezialisten" elektrische und andere Arbeiten erledigen mußten. Ihre Erzählung weist so viele Gemeinsamkeiten mit der jetzt in Gerdauen gehörten Geschichte auf, daß es sich unzweifelhaft um dieselben Personen handeln muß; der einzige Unterschied ist, daß in der Geschichte der drei Jungs der russische Mann von Herta Militärlastwagenfahrer war. Die drei erzählten auch, daß in jener Zeit, in der das Verhältnis zwischen russischen Männern und deutschen Frauen von Gewalt und blankem Entsetzen gekennzeichnet war, zwischen dem russischen Soldaten und Herta eine wirkliche, tiefe Liebesbeziehung bestanden hatte. Bis die beiden gewaltsam auseinandergerissen wurden.

Als unser Wagen vor Poljakows Haus hält, fragt Vera: "Was soll ich sagen, wenn er die Tür aufmacht?" – Es ist mir klar, daß wir nicht mit der Geschichte von Herta anfangen können; überhaupt sollten wir erst später erwähnen, daß wir schon etwas von seiner Geschichte gehört haben. Wenn wir wollten, daß er uns überhaupt etwas erzählt, müßten wir anders anfangen. Ich sage also: "Erzähl ihm einfach, wir haben gehört, daß er schon lange in Gerdauen wohnt und daß wir ihn deshalb bitten, etwas über die Nachkriegszeit in dieser Stadt zu erzählen."

Poljakows Haus wirkt nicht gerade ungepflegt, aber der Zaun und die Holzteile am Gebäude sind wahrscheinlich seit über 50 Jahren nicht mehr gestrichen worden und sehen aus wie graue Borke. Das, was einmal Vorgarten war, ist sauber, aber es gibt weder Blumen noch eine Holzbank oder ähnliches. Der Eingang ist auf der Rückseite des Gebäudes, wo sich ein Hofareal mit Holzschuppen und Stall befindet; ein gefleckter Hund zerrt dort an seiner Leine und bellt wie irrsinnig, als er uns sieht.

Poljakow öffnet schon nach kurzem Klopfen, er hat uns wohl vom Fenster aus gesehen. Vera erklärt ihm sehr höflich unser Anliegen. Poljakow ist nicht gerade mißtrauisch, aber deutlich reserviert. Er sagt, daß er sich an kaum noch etwas von damals erinnern könne. Aber er kommt trotzdem die zwei Eingangsstufen herunter, was mich hoffen läßt, daß er einem Gespräch nicht abgeneigt ist. Auch der Hund beruhigt sich etwas, knurrt aber noch und bleibt kläffbereit. So fange ich an, Poljakow meine Fragen zu stellen, und Vera übersetzt.

"Wann sind Sie nach Gerdauen gekommen?" – "1946." – "Was war damals Ihre Tätigkeit?" – "Ich war Hauptmechaniker im Kino. Hatte dort drei Zimmer." – Da ich nicht gleich nach Herta fragen will, frage ich erst mal nach den deutschen Jungs, von denen ich weiß, daß einer damals ab und zu als Filmvorführer für die Sowjets arbeitete; ich nenne seinen Namen, frage, ob er sich an ihn erinnert. – "Nein." – Erinnert er sich an andere Deutsche aus jener Zeit? – Poljakows Gesicht bleibt angespannt, aber sein Blick ruht nun sichtbar nicht mehr auf Vera, man sieht, daß er in die Vergangenheit gewandert ist. Welche Bilder mögen an ihm vorüberziehen? Welche Gesichter, das von Herta? Sicher. – Poljakow sagt etwas, aber Vera übersetzt es mir nicht. Sie spricht mit ihm, er spricht. Schließlich sagt Vera zu mir: "Er meint, er kann sich an niemand erinnern. Er hat Kopfschmerzen. Er will nicht mehr sprechen."

Während er sich zum Gehen wendet, schiebt er als weitere Erklärung nach, daß seine Frau krank sei, sie liege im Krankenhaus und würde nicht mehr lange leben. Um ihn hinzuhalten, frage ich, wie lange er schon in diesem Haus wohnt. Er antwortet: seit 1947, und entschuldigt sich gleichzeitig, daß das Haus in so schlechtem Zustand ist. Ich frage, ob es ihm gehört. Nein, nicht, und es würde nichts dafür getan. Ich lobe aber, daß es sehr sauber sei. Poljakow ist durch den Themenwechsel ein bißchen gelöster. Vera erzählt ein paar Belanglosigkeiten aus ihrer eigenen Zeit in Gerdauen; Poljakow antwortet kaum. Während sie so zusammenstehen, kann ich ihn ungestört beobachten. Er ist dünn und durchscheinend wie ein welkes Blatt. Das dunkelblonde Haar hat er sorgfältig zurückgekämmt, wohl mit feuchtem Kamm, wie es in meiner Kindheit die Männer manchmal noch taten. Trotz seiner Falten versuche ich, mir vorzustellen, wie er als junger Mann ausgesehen hat. Die sehr niedrige Stirn und das an der Nasenwurzel eingeknickte Profil lassen erkennen, daß er auch in der Jugend nicht besonders gut aussah; äußere Anziehung kann es nicht gewesen sein, die Herta zu ihm geführt hat. Seine verhaltene Art, sein scheues Sprechen sind der bestimmende Eindruck, den er vermittelt; und über seinem Gesicht, seinem Wesen, ja sogar seiner Haltung liegt ein Schatten demütiger Traurigkeit. Veras ernüchterter Miene und ihrer spärlichen Übersetzung merke ich an, daß es zwecklos ist, mehr aus Poljakow herausholen zu wollen. So verabschieden wir uns und entfernen uns durch den spärlichen Vorgarten, hinter uns das Kläffen des Hofhundes.

Da wir mit diesem Gespräch viel früher fertig geworden sind, als wir erwarteten, haben wir noch Zeit. So beschließen wir, jenen zweiten Mann hier in der Siedlung aufzusuchen, der seit Beginn der Russenzeit in Gerdauen lebt. Über unsere Einführung bei ihm brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, denn Vera hat zusammen mit seiner Tochter die Schulbank gedrückt. Das ist fast so gut wie eine Einladung.

Doch wir stehen vor einem versperrten Grundstück. Das mannshohe Brettertor hat einen alten Heberiegel, der von außen nicht mehr funktioniert. Vera ist der Mechanismus fremd; aber ich kenne ihn von unzähligen deutschen Stalltüren und kann ihn mit einem Trick öffnen. So gelangen wir mit wenigen Schritten zu dem Haus, in dem Chimitsch, unser Besuchsziel, wohnt. Er hat sicher keine dramatischen Erlebnisse zu berichten, aber wenn er uns nur ein paar Erinnerungen aus dem Gerdauen der Nachkriegszeit erzählen kann, sind wir schon zufrieden.

Andrej Demianowitsch Chimitsch ist zu Hause. Er öffnet nach Veras Klopfen die Tür der Glasveranda, die den Eingang des Hauses bildet. Nach ein paar Sätzen erkennt er Vera wieder und hat nichts gegen ein Gespräch einzuwenden. Chimitsch bittet uns hinein, aber Vera fragt, ob wir nicht hier draußen bleiben können. Die Sonne, eine Bank und ein Hocker laden ein, gleich am Eingang Platz zu nehmen, in einem idyllischen Winkel zwischen Haus, Einfahrt und Garten. Chimitsch setzt sich auf den Hocker, und ich verzichte darauf, mich neben Vera auf die Bank zu setzen, sondern ziehe mir eine Fußbank heran, so wirkt es eher, als sollte ich dem Gespräch der beiden zuhören als es selbst zu führen. Vera erläutert unser Anliegen, Chimitsch hört aufmerksam zu. Überhaupt geben ihm die nachdenklichen Augen in seinem eher gedrungenen, kurznasigen Gesicht das Aussehen eines klugen Bauern. Er erzählt als erstes, wie er hier hergekommen ist, Vera übersetzt.

Es war 1946. Sein eigener Entschluß ist es nicht gewesen, hier herzukommen. Aber er war bei der Eisenbahn, und so wurde er nach Gerdauen abkommandiert.

Ich frage ihn, wie es damals hier aussah. Er bezieht die Frage auf das Haus, das er bewohnt, und er beschreibt dessen damaligen Zustand: "Es hatte weder Türen noch Fenster. Es mußte erst ein Deutscher kommen und uns neue einbauen. Er machte das in einer Woche. Jeden Tag schaffte er eins und bekam dafür von uns etwas zu essen."

"Woher bekamen Sie die Fenster und Türen?"

"Die nahmen wir aus anderen Häusern, die leerstanden."

Diese Art der Materialbeschaffung war wahrscheinlich auch der Grund gewesen, daß das Haus, in das er gerade ziehen wollte, ohne Fenster und Türen war. Gerdauen war nämlich völlig unzerstört in die Hände der Roten Armee gefallen; erst in der Folgezeit hatten sowjetische Soldaten angefangen, die Holzteile der Häuser, die sie gerade nicht bewohnten, zu verheizen; andere Russen, die später in diese Gebäude zogen, holten sich die fehlenden Einbauten aus weiter abliegenden, intakten Häusern. Ich frage:

"Wissen Sie, warum dieses Haus keine Fenster und Türen hatte?"

"Wir dachten, daß das im Krieg passiert ist."

Da die deutschen Jungs, die damals für die Sowjets arbeiten mußten, mir erzählt hatten, daß sie auch Fenster einsetzten mußten, will ich von Chimitsch wissen, ob er sich noch an den Name seines Fenstermonteurs erinnern kann; aber er hat keinen Namen im Gedächtnis behalten.

"Erinnern Sie sich an andere Deutsche in jener Zeit?"

"Ja, wir kannten eine deutsche Familie, sie wohnte am Eingang von Gut Kinderhof. Sie hatten zwei Kinder. Den Vornamen des Vaters weiß ich noch, er hieß Walter. Er arbeitete in dem Möbellager, das in der Ziegelei hinter dem Bahnhof eingerichtet worden war. Dort lagerten Möbel, Klaviere, Nähmaschinen, die aus den deutschen Häusern geholt worden waren. Walter ließ für uns dort mal Ersatzteile mitgehen und reparierte damit unsere Nähmaschine."

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