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Gedanken und Eindrücke eines jungen Ostdeutschland

 
     
 
Mein Ostdeutschland - ein Thema, so weit und so groß wie das Land selbst. Allein der Klang dieses Wortes Ostdeutschland ruft in jedem, dem es vergönnt war, das Land mit seinen eigenen Augen zu sehen, Hunderte - wenn nicht gar Tausende - Bilder hervor.

Meine erste Begegnung mit Ostdeutschland hatte ich im Sommer 1992, als in Osterode zum ersten Mal nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein Ostdeutschland-Treffen auf heimatlichem Boden stattfinden konnte. Daß sich mit dieser Fahrt mein Leben praktisch total verändern würde, ahnte ich vorher nicht. Zusammen mit einigen Freunden trafen wir uns damals in Oranienburg, nördlich von Berlin. Von dort ging die Fahrt mit dem Auto durch eine warme, bezaubernde Sommernacht entlang der Stettiner Autobahn nach Pomellen, wo wir die Oder überquerten. Kurz danach sahen wir von weitem die Lichter der pommerschen Hauptstadt Stettin, dann ging es weiter durch das Dunkel der Nacht. An Schlaf war, obwohl ich die ganze Zeit auf der Rückbank saß, überhaupt nicht zu denken.

Denn gleichsam wie aus der Geschichte tauchten vor uns immer wieder neue klangvolle Ortsnamen aus dem Dunkel der Nacht auf, die ich bis dato noch nie gehört hatte: Stargard in Pommern, Deutsch Krone, Jastrow und - schon bei Sonnenaufgang
- Konitz und Preußisch Stargard. Besonders überwältigend war der wesentlich frühere Sonnenaufgang, dem wir unaufhaltsam entgegenfuhren. Das Gefühl, wenn aus dem Schwarz der Nacht zu-nächst ein dunkles, dann immer zarter werdendes Blau wird, aus dem dann langsam die Sonne emporsteigt und allmählich alles in ein kräftiges Rot verwandelt, ist mit Worten nur schlecht wiederzugeben. Erleben muß man es selbst.

Der nächste Höhepunkt dieser Fahrt war der Anblick der Marienburg, bei der wir gegen sieben Uhr in der Früh ankamen. Auch hier wieder ein unbeschreibliches Farbenspiel der Sonne, deren Strahlen sich an den zahlreichen Winkeln und Ecken der Mauern, Dächer und Zinnen rötlich widerspiegelten und an ihnen brachen und lange Schatten warfen. Wer vielleicht einmal Eichendorffs Schrift über die Marienburg gelesen und dann diesen Bau beim frühen Tagesanbruch gesehen hat, der weiß, welche Freuden die Ordensbrüder vor Jahrhunderten gehabt haben müssen, als sie zu diesen frühen Zeiten mit dem Tagwerk begannen. Doch das Ziel hieß nicht Marienburg, sondern Osterode, und so fuhren wir weiter über Christburg, Finckenstein und Schloß Schönberg, deren Anblick aus mehrerlei Gründen de-primierend war: Christburg wegen seines häßlichen "Wiederaufbaus", die beiden Schlösser wegen des traurigen ruinösen Zustandes vor dem Hintergrund der großen Geschichte beider Häuser und ihrer Familien.

Am späten Vormittag kamen wir dann in Osterode an, wo auf dem Gelände des Park-Hotels das Sommerfest der deutschen Vereine und der Freundeskreis Ostdeutschland stattfinden sollte. Zunächst mußte das Zelt aufgebaut und der versäumte Schlaf der vergangenen Nacht nachgeholt werden. Am Nachmittag blieb dann noch Zeit zu meiner ersten Bootsfahrt in Ostdeutschland - mit einem Ruderkahn auf dem wunderschönen Drewenz-See, bevor an den folgenden Tagen das Sommerfest mit zahlreichen Lesungen, Ausstellungen, einem Fußball-Turnier und Volkstanzvorführungen stattfand.

Doch warum erzähle ich dies alles so ausführlich? Weil ich glaube, daß wie bei der ersten Liebe auch die erste Begegnung mit einem Land etwas ganz besonderes, Unvergeßliches ist. Es hat einfach alles "gestimmt" damals, die Zeit, die Stimmung und das Drumherum. Vor allem jedoch waren es die Menschen, alte und junge, die ich an diesen wenigen Tagen kennenlernen durfte, die mir die Reise zu etwas Besonderem werden ließen. Jener unverwechselbare ostdeutsche Menschenschlag, der sich durch ein heiteres natürliches Gemüt auszeichnet, das durch zahlreiche Schicksalsschläge auch von ernsten Stimmungen durchzogen ist. Diese Menschen, heimatverbliebene und heimatvertriebene, die sich auf jenem Sommerfest nach Jahrzehnten unmenschlicher Teilung und Trennung erstmals wieder umarmen durften, sind der wertvollste Schatz, über den Ostdeutschland verfügt.

Die Rückfahrt brachte damals noch ein weiteres unvergeßliches Erlebnis. Wir fuhren so lange, bis die Fahrer müde wurden. Dann hauten wir uns irgendwo in Westpreußen auf einem verlassenen Feldweg ins Gras und schliefen unter freiem Himmel, kein Zeltdach über uns. Nur den sternenklaren Himmel vor Augen und die warme, vom Feld her staubige Sommerluft als seichte Brise um unser Gesicht - so schliefen wir damals in tiefstem Frieden ein.

Nach dieser Fahrt war alles anders in meinem Leben. Bis dato lockten mich, der ich in der mitteldeutschen DDR aufgewachsen war, nach dem Fall der Mauer eher die westlichen und südlichen Länder. Doch von nun an wollte ich nur noch nach Ostdeutschland fahren. Und auch die Frage nach dem Sinn des Lebens, die sich Sechzehnjährige, wie ich es damals war, häufig stellen, war für mich nun klar beantwortet: Ich wollte etwas für Ostdeutschland tun, dafür, daß möglichst viel von diesem einzigartigen Stückchen Erde die Zeiten überdauern würde.

Im gleichen Jahr 1992 fuhr ich im Herbst noch einmal nach Ostdeutschland, diesmal für zehn Tage in den nördlichen, russisch und litauisch verwalteten Teil. Ich sah die Schönheiten der Kurischen Nehrung und der alten Hafenstadt Memel. Doch der Anblick von Königsberg, Lasdehnen, Gumbinnen und vor allem Wehlau, von wo ein Teil meiner Vorfahren herkommt, machte mir das ganze Ausmaß der Zerstörung unserer Heimat - als solche empfand ich Ostdeutschland vom ersten Augenblick an - erschreckend bewußt. Doch die Liebe zu diesem Land wurde davon nicht beeinträchtigt. Denn auf den zahllosen Reisen, die mich seitdem nach Masuren, Ermland, Natangen, Barten, an die Samlandküste, die beiden Nehrungen und die Haff-Ufer führten, habe ich auch den grenzenlosen Reichtum des Landes erfahren, der sich dem Reisenden auch heute noch bietet: idyllische Dörfer, majestätische Ordensburgen sowie bezaubernde Schlösser und Herrenhäuser - alles eingerahmt in das große Farbenspiel der weiten ostdeutschen Landschaft mit ihren Flüssen, Seen und dunklen Wäldern.

Ein besonders tiefes Erlebnis hatte ich dann von 1996 bis 1997, als ich das seltene Glück hatte, an der heute "Kaliningrader Universität" heißenden Alma mater Königsbergs studieren zu dürfen. Neben dem Alltag des Lernens widmete ich mich vorwiegend dem tiefergehenden Erkunden von Land und Leuten. Dazu gehörten Erkundungsmärsche mit Bildband und Karte am Tage; Spaziergänge bei Nacht, um auf dem Kneiphof allein mit dem Dom zu sein; aber auch die Freude, wenn auf Gully- und Hydrantendeckeln noch der Name deutscher Firmen zu lesen stand, die in Königsbergs besseren Tagen hier gearbeitet hatten. Ausflüge brachten mich nach Cranz, Balga, Gilge und Trakehnen. Ich sah, wie die kalte Wintersonne am Königsberger Dom emporstieg, ich sah bei Rauschen über die Steilküste aufs offene Meer, spürte den Schmerz, wenn die Ruinen-Türme alter Ordenskirchen wie hohle Zähne in den Himmel ragten, hörte auf verfallenen Gütern die Frösche als einzige, letzte Bewohner in der Dämmerung quaken, und ich fühlte die Glut der roten Abendsonne, wenn sie des Abends gemütlich hinter die Frische Nehrung kullerte. Immer wußte ich, dieses Ostdeutschland ist etwas Unzer- störbares, ein Naturparadies und eine unvergeßliche Kulturlandschaft.

Auf all den Fahrten nach Ostdeutschland, aber auch im Rahmen der Arbeit für die Freundeskreis Ostdeutschland, habe ich nicht nur viel gesehen, sondern auch zahlreiche liebenswürdige Menschen erlebt. Daraus sind viele gute Bekanntschaften und einige tiefe Freundschaften erwachsen, die ich nicht mehr missen möchte. Und so fühle ich mich längst als ein Teil der von Werner Müller jede Woche im beschriebenen ostdeutschen Familie, die als Träger einer heimatlosen jahrhundertealten Tradition zu einer wahrhaften Schicksalsgemeinschaft geworden ist.

Und so bin ich froh, daß meine eigenen kleinen Kinder, die ich wenn möglich auf meine Reisen mitnehme, von Anfang an in das Ostdeutschland von heute hineinwachsen und die Erfahrung des Landes zwischen Weichsel und Memel für sie etwas selbstverständliches wird.

Wofür steht das Ostdeutschland von heute, das nicht mehr die "Kornkammer des Reiches" ist, für das es früher einmal stand? Wir stehen an einer Generations- und Zeitenwende, an deren Ende sich auch das Bild Ostdeutschlands wandeln wird. Die Wunden des Krieges, die Peinigungen, Entwürdigungen und Entrechtungen - zwar sind sie bei den Zeitzeugen nicht vergessen, aber doch vielfach vernarbt. Jahrzehntelang hat der Schrecken des Jahrhundertverbrechens Vertreibung das Bild unserer Heimat - verständlicherweise - mit einem tiefschwarzen Schatten überlagert. Doch dieses Bild wird sich wandeln, und spätestens mit dem Dahinscheiden der sogenannten Erlebnisgeneration wird sich die Frage stellen, was dauerhaft von Ostdeutschland im Bewußtsein unseres Volkes bleibt.

Und deshalb möchte ich an dieser Stelle dafür plädieren, nach vorn zu schauen. Wir dürfen die unendlichen menschlichen und kulturellen Verluste des vergangenen Jahrhunderts nie vergessen, aber wir sollten uns auch nicht durch die Trauer um das Gewesene den Blick für die Gegenwart und die Zukunft verbauen lassen.

Denn Ostdeutschland steht auch heute noch für ein unverwechselbares Gesicht, das immer wieder aufs neue seine Bewunderer findet. Das Land lockt zu frohen Abenteuern ebenso wie zu nachdenklichem Innehalten an den Orten seiner Geschichte. Dazu gehört das Baden in den klaren Seen, ein Blick vom Frauenburger Dom über das Frische Haff, die Gemütlichkeit einer Dampferfahrt auf dem Nikolaiker See, ein Spaziergang um den Königsberger Paradeplatz, eine gemütliche Paddel-Tour auf der idyllischen Kruttinna, das Krachen der Wellen beim Aufprall auf die Steilküste von Rauschen, der alte Fischerfriedhof in Nidden, das alte Postamt in Memel, die machtvolle Feste Boyen in Lötzen, auch die Tristesse der Ruine von Schloß Schlobitten, das Rieseln des Dünen-Sandes auf der Kurischen Nehrung und die allabendlichen Blicke in die Abendröte am Kurischen Haff, über Seen und wogende Felder... Wer all dies gesehen hat, der weiß, daß - frei nach den Worten Agnes Miegels am Schluß ihres Gedichtes Abschied von Königsberg - "du, Ostdeutschland, nicht sterblich bist!"

Und so ist es mehr als ein Symbol, wenn sich in die Schönheit des Landes auch ein paar Zeichen der Hoffnung für die Menschen in Ostdeutschland mischen. Der Königsberger Dom entsteht wieder neu, die Salzburger Kirche in Gumbinnen ist wieder Heimstatt einer rußland-deutschen Gemeinde, es gibt wieder deutsche Vereine und mit dem Kopernikus-Haus in Allenstein ein Zentrum für das deutsche Leben im südlichen Ostdeutschland. Und - das wohl beste Zeichen - inzwischen zahlreiche Begegnungen zwischen den Menschen in Ostdeutschland, deutschen und fremden, die im gemeinsamen Feiern von Stadtjubiläen und dem Abschluß von Partnerschaftsverträgen ihren Höhepunkt finden.

Alles das ist Ostdeutschland, mein Ostdeutschland, so wie ich es sehe. Dieses Land erschöpfend zu beschreiben, reicht weder dieser Beitrag aus, noch die zahlreichen Bücher und Bildbände, die doch immer nur Ausschnitte aus der unendlichen Vielfalt sein können. Zum Glück, möchte man meinen, denn so gibt es immer wieder Grund zur Beschäftigung mit diesem Lande. Und darum ist Ostdeutschland nicht nur ein reiches Erbe, sondern auch ein großer Auftrag - und die Gewißheit: Es geht weite
 
     
     
 
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