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Gemeinsame Erlebnisse verbinden

 
     
 
Auf einmal überkommt es mich. Ich muß zu Idchen. Gott sei Dank gehört sie zu den Menschen, bei denen man sich nicht erst großartig anmelden muß. Also los, rauf aufs Rad. Außerdem bin ich neugierig, was aus den Blumenzwiebeln geworden ist, die sie im Herbst gepflanzt hat. Bis zu ihr hinaus ist es ein ganzes Stück, und der Wind ist immer noch kalt. Deshalb bin ich froh, daß sie zu Hause zu sein scheint.

Das Küchenfenster steht auf "Kipp", und als ich mein Rad darunter abstelle, höre ich das mir vertraute Schlagen von Eiklar mit der Gabel auf dem Teller. Ich muß schmunzeln. Genau das mache ich auch noch. Wieviel lockerer türmt sich das kleine Schneegebirge im Gegensatz zum elektrisch produzierten.

Idchen ist keineswegs überrascht, als sie mir die Tür öffnet. "Als ob ich das geahnt hätte", begrüßt sie mich und setzt auf gute alte ostdeutsche Sitte hinzu: "Hast du schon gegessen?" - "Nein, habe ich nicht." - "Um so besser", meint sie, hebt den Schnee unter den Handgerührten und stellt ihn in den Ofen.

Ich frage nach den Osterblumen und den Tulpen, die sie gesteckt hatte und ob sie bei der Kälte auch gekommen sind. Später wird sie mir das zeigen, weiß ich, denn das gehört zum Programm: der Garten. Wir sitzen uns am Küchentisch gegenüber, freuen uns. Es gibt uns noch. Wir sind noch da!

"Weißt noch", fragt sie nachdenklich, "wenn wir in unseren jungen Jahren immer den Spruch spöttisch zitierten, ,Wen der Herbst nicht will, den holt der April ?" - "Ja", sage ich, "das denke ich jedes Jahr." - "Ich auch", sagt sie im Aufstehen, holt Teller aus dem Schrank und füllt sie gleich mit Kumst aus dem Topf vom Herd auf und stellt sie auf den Tisch. Sich setzend, fügt sie hinzu: "Wieder mal geschafft."

Der Kohl schmeckt lecker. Schön mit Majoran angemacht. Da nehme ich doch noch den zweiten Schlag. Beim Essen sprechen wir dies und das, lassen das Schwere, das wir nicht ändern können, bewußt beiseite. Nicht schon wieder Kriege und Fluchten!

Bei Idchen ist es wie Nach-Hause-Kommen. Daß wir uns noch haben! Die Chemie
würde zwischen uns stimmen, hatte mal jemand bemerkt, als wir zu großer Form aufliefen. Was heißt Chemie?! Wir sind als Kinder über dieselbe Erde gelaufen, derselbe Himmel hat uns beschirmt. Das verbindet eben.

Der Kuchen ist fertig, und bis er abgekühlt ist, folgt der obligatorische Gang durch Idas Garten. Alle Blumenzwiebeln sind gekommen. Zum größten Teil blühen sie schon. In der Ecke gibt es den ersten Rhabarber, von dem ich vier Stangen mitbekommen soll. Ein Teil des Gartens ist für Kartoffeln und Gemüse vorgesehen. Fein, daß sie daran festhält, denn nichts Gekauftes kommt dem ihren gleich. Welch mehlige Kartoffeln sie immer hat! Einfach toll. Ich will wissen, wie lange mein bestes altes Stück das noch machen will. "So lange, wie du mit dem Rad kommen kannst", lacht sie. Wir betrachten uns gegenseitig. Wir brauchen uns, würden uns gegenseitig fehlen.

Nach dem Kaffeetrinken - ein Stück Kuchen wandert zum Rhabarber in den Korb auf dem Rad - will ich fahren. Den Wind habe ich nun von vorn. Heute umarmen wir uns beim Abschied und sind uns einig, es ist ein Glück zu leben, auch wenn wir schon alt sind.

Beim Anfahren ruft sie mich zurück. Sie hat Tulpen in der Hand, die ebenfalls in den Korb kommen. Wie Rotkäppchen, denke ich, Blumen und Kuchen. Während ich nach Hause fahre, habe ich noch lange ihr "Komm bald wieder" im Ohr ... Christel Bethke

Philipp Otto Runge: Die Hülsenbeckschen Kinder (Öl, 1805/06, im Besitz der Hamburger Kunsthalle)
 
     
     
 
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