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Sie streiten sich schon wieder, geht mir durch den Sinn, während ich am Fenster stehe und auf das näher kommende Gewitter starre. Wer sich streitet? Na, die kalten und die warmen Luftschichten, wie wir heute wissen. Oder schimpft der liebe Gott mit uns? Manche sagen auch, Petrus kegelt mit den Engeln.
Wie auch immer, ich ärgere mich! Mußte das unbedingt jetzt sein? Wo ich doch mein heißgeliebtes Mittagsstündchen in meiner Liege auf dem Balkon genießen wollte! Ich zucke zusammen, es blitzt ein paarmal kurz, ein zaghaftes Donnern folgt und schon öffnet der Himmel seinen Wasserhahn. An meinen frischgeputzten Fensterscheiben laufen Rinnsale herab. „... hätte ich mir sparen können“, murmele ich vor mich hin. In dem Augenblick ist der Spuk auch schon wieder vorbei und die Sonne lugt zaghaft hinter einem letzten Wolkenbündel hervor, als wollte sie sagen: „Tut mir leid, meine Schuld war’s nicht!“ Das Thermometer ist in den Keller gerutscht. April, denke ich? Aber nein, der Kalender sagt, es ist Sommer.
Vom Blume nkasten schauen mich traurig die Geranien an. Ihre Blüten hat der kurze, aber heftige Guß zerfleddert. Ich trockne meine Liege, ziehe eine Jacke über und setze meine Mittagsruhe fort. Ich blinzele in den Himmel und schaue dem abziehenden Wetter nach.
Ich schließe meine Augen und meine Gedanken fliegen über Land und Meer in meine unvergeßliche, ostdeutsche Kinderzeit. Lang ist es her, aber vor meinem geistigen Auge erscheinen Bilder einer zauberhaften Heimat. Auch dort waren Gewitter an der Tagesordnung. Aber Naturereignisse solcher Art verbreiteten im Land Angst und Schrecken. Näherte sich ein Unwetter, holte die Großmutter die Bibel aus der Schublade und begann zu beten. Die Mutter umklammerte ängstlich eine Tasche mit Papieren und Wertsachen. Die stets laute und muntere Kinderschar verdrückte sich mucksmäuschenstill in eine schützende Ecke. Besorgte Männer standen am Fenster, um Hab und Gut bangend.
Ich erinnere mich an den Sommer 1944, den letzten in der Heimat. Als wisse er um die dunkle Zukunft, präsentierte er sich in diesem Jahr von seiner besten Seite. Es gab Wochen mit wunderschönen, sonnigen Tagen. Wir Kinder streiften durch Feld und Wald und suchten Abkühlung im Keygster, einem Flüßchen, das durch unser Dorf Schnakeinen floß. Wir hatten Ferien und genossen, soweit wir nicht zu Arbeiten herangezogen wurden, die freien Tage in vollen Zügen. Das noch fern liegende Kriegsgeschehen berührte uns wenig. Die Kornaust lief auf Hochtouren. Alles, was zwei Hände hatte und kräftig genug war – viele Männer fehlten, sie waren an der Front oder gefallen – mußte helfen. Auch wir Kleinen hatten in dieser Zeit unsere Aufgaben: Wir mußten die Erntehelfer mit Getränken und anderen Erfrischungen versorgen.
Es war sehr heiß und schwül an diesem Tag. Die Sonne brannte unbarmherzig vom wolkenlosen Himmel. Jeder wünschte sich am Horizont die ersten Wolken, die sich bald zu einer dunklen Wand auftürmten und schnell näher kamen. Im Dorf sah man besorgt zum Himmel, ein hektisches Treiben begann. Hausfrauen sammelten eilig Wäsche ein, die zum Bleichen auf der Wiese lag oder zum Trocknen auf der Leine hing.
Die Glucke lockte ängstlich ihren Nachwuchs unter die Fittiche und verschwand glucksend in der Scheune. Wir Kinder scheuchten das übrige Federvieh in den Stall, um dann selbst im Haus Schutz vor dem drohenden Himmel zu suchen. Draußen schaukelten die letzten Erntewagen schwer beladen im Trab unter Dach und Fach. Unser Hund kroch winselnd in die hinterste Ecke seiner Hütte.
Es wurde zusehends dunkler. Mutter schloß die Fenster, löschte das Herdfeuer und zündete eine Kerze an. Am Fenster stehen war verboten, kam uns auch gar nicht in den Sinn! Wir suchten Schutz unter dem Tisch, der uns auch Monate später, als anderer Donner grollte, Zuflucht sein sollte. Aber das ist eine andere Geschichte.
Im Dorf war es totenstill geworden. Sogar die Vögel hatten aufgehört zu singen. Nur von den Weiden her ertönte vereinzelt das klägliche Muhen der Kühe. Die Luft stand, es regte sich kein Blatt am Baum. Dann zuckte urplötzlich der erste Blitz quer über den fast schwarzen Himmel, danach ein ohrenbetäubender Donnerschlag! In kurzen Abständen jagte nun einer den anderen, pausenlos. Nach einer Weile setzte ein orkanartiger Sturm ein. Hei, wie jagte er alles was nicht niet- und nagelfest war über Höfe und Straßen. Bäume und Sträucher neigten sich ächzend von einer Seite zur anderen. Heubüschel von gemähten Wiesen wirbelten durch die Luft, dürre Äste und trockene Blätter ihnen nach. Der Staub von trockenen Feldern und Wegen verdunkelte die Sicht hinaus ins Freie.
So urplötzlich wie der Gewittersturm aufgestanden war, legte er sich wieder. Es begann zu regnen, der Himmel öffnete seine Schleusen und im Nu bildeten sich überall Seen und große Patschlöcher. Von abfallenden Wiesen flossen wahre Sturzbäche. Fast zwei Stunden dauerte das Inferno, wir dachten schon, das sei die Sintflut. Da hörten wir die Feuerwehr! Das Unwetter hat wieder zugeschlagen, dachten wir. Später erfuhren wir, daß der Blitz „nur“ einen Erntewagen in Brand gesteckt hatte, der es nicht bis zur rettenden Scheune geschafft hatte. Außerdem zählte eine Kuh auf der Weide zu seinen Opfern!
Langsam wurde es heller, das Gewitter hatte sich ausgetobt und zog weiter. Die Gefahr war vorüber und uns Kinder hielt nichts mehr im Schutz des Hauses. Wir stürmten ins Freie und ergötzten uns daran, barfuß durch die gewitterwarmen Patschlöcher zu stampfen, daß uns der Modder um die Ohren flog.
Die Sonne lugte hinter den Wolken hervor und tauchte die nasse Erde in gleißendes Licht. Als ob der Himmel um Entschuldigung bat, spannte sich über unser Schnakeinen ein schillernder Regenbogen, auf den man nicht mit Fingern zeigen durfte, sonst verschwand er gleich wieder, sagte man.
Ein Jumbo vom nahen Flughafen donnert übers Haus! Ich öffne erschreckt die Augen und finde mich auf meiner Liege neben den zerplieserten Geranien wieder. Meine Gedanken sind zurückgekehrt, mitten in den Kölner Alltag zu Beginn des dritten Jahrtausends.
Fast zwei Stunden dauerte das Inferno |
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