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Glas-Sarg für Milliarden

 
     
 
Er mußte ja unbedingt ein Hauptbahnhof sein! Zwar hatte Berlin nie einen, auch nicht, als die Stadt größer, vitaler, im Weltmaßstab bedeutender war als heute und als weder Billigflieger noch Autos der Bahn ernsthafte Konkurrenz machten. Doch das politische Bonn, bevor es sich nach Berlin bequemte, wollte ihn unbedingt, und die Berliner Lokalpolitiker waren ihm im allgemeinen Größenwahn herzlichst verbunden.

Was an der Stelle des ehemaligen Lehrter Stadtbahnhofs, hart an der ehemaligen Sektorengrenze, Gestalt annimmt und in einem Jahr in Betrieb gehen soll, ist immerhin beachtlich und sieht großartig aus. 320 Meter lang und rund 40 Meter hoch ist das Glasdach, das die Bahnsteige in Ost-West-Richtung überspannt. Es wird von einem zweiten, 180 Meter langen Dach von Nord nach Süd gekreuzt, und zwei mächtige Bürobügel spannen sich über die Bahnhofshalle. Auf fünf ober- und unterirdischen
Ebenen soll der Verkehr fließen. Respekt vor der technischen und logistischen Meisterleistung, doch war dieser Gigantismus wirklich nötig? Wohl nicht, wie sich gerade zeigt.

Berlin besaß bis 1945 ein dezentrales System von Bahnhöfen, die an das gutausgebaute S-Bahn-System angebunden waren. Die alten Namen verweisen auf die jeweilige Zielrichtung: Schlesischer, Anhalter, Görlitzer, Hamburger, Stettiner und Lehrter Bahnhof (Lehrte bei Hannover).

Gegner des neuen Hauptbahnhof-Konzepts wollten dieses System wiederbeleben, auch um Geld zu sparen. Schließlich kam es zu einem Kompromiß, dem sogenannten "Pilzkonzept". Dieses sieht einen Hauptbahnhof im Stadtzentrum vor, dem sich sechs weitere Fernbahnhöfe zuordnen. In einer großflächigen Stadt wie Berlin ist das durchaus sinnvoll. Der Ost-West-Verkehr sollte oberirdisch einlaufen, der Nord-Süd-Verkehr in einem 3,4 Kilometer langen, neuerbauten Nord-Süd-Tunnel hindurchgeleitet werden.

Doch jetzt hat die Bahn ihre Pläne geändert. Zunächst sickerte durch, daß der Bahnhof Zoo nur noch für den Nah- und Regionalverkehr genutzt werden soll. Für die westliche Stadtmitte, die dadurch viel Reisepublikum verliert, ist das ein Schock. Nun kommt zudem noch heraus, daß auch die anderen Bahnhöfe im ICE-Verkehr zurückstecken sollen. Dafür werden verkehrstechnische Gründe genannt: Der Ostwestverkehr soll ebenfalls durch den Nord-Süd-Tunnel geführt werden, angeblich, weil durch diese Route Zeit gespart wird. Die Ersparnis beträgt allerdings nur vier Minuten.

Praktisch würde das bedeuten, daß die ICE-Züge auf dem Hauptbahnhof unterirdisch einlaufen. Die prachtvolle Glashalle aber, die den Blick auf das Kanzleramt und das Regierungsviertel freigibt und ein schönes Entrée für Berlin-Besucher werden sollte, würde damit zum Geisterbahnhof, durch den nur S-Bahnen und kleine Vorortzüge zuckeln: ein riesiger, teurer Schildbürgerstreich. Die Bahn verweist gegen solche Vorhaltungen auf den Berlin-Warschau-Express, der oberirdisch einlaufen soll - insgesamt aber nur dreimal am Tag!

Die Konzentration der Fahrgäste am Hauptbahnhof ist auch deswegen fatal, weil er nur mit der S-Bahn problemlos zu erreichen ist. Die neue U-Bahn-Linie endet bereits am Pariser Platz beim Brandenburger Tor, eine Straßenbahn fehlt, Buslinien müssen sich auf häufige Absperrungen gefaßt machen, denn das Regierungsviertel liegt nur einen Steinwurf entfernt. Der innerstädtische Autoverkehr würde noch weiter anschwellen. Aber es mußte ja ein Hauptbahnhof sein!

Für die Bahn dürfte folgende, einfache Überlegung im Vordergrund stehen: Sie will die Fahrgastströme zum Hauptbahnhof lenken, um die Büro- und Einzelhandelsflächen in den neuen Gebäuden vermieten zu können. Aus ihrer Sicht ist das verständlich. Sie hat Milliarden investiert, doch von dem erträumten, quicklebendigen Bahnhofsviertel mit Hotels, Restaurants, Tagungszentren, Firmenzentralen und Gewerbe ist weit und breit nichts zu sehen. Der Hauptbahnhof liegt - wie auch das Kanzleramt - inmitten einer städtebaulichen Wüstenei. Berlin ist noch immer nicht zur europäischen Drehscheibe geworden. Womit wir wieder bei den geplatzten Metropolenträumen und der Berliner Misere wären. Mit dem aktuellen Schildbürgerstreich wird die Rechnung für die Diskrepanz zwischen den Träumereien der 90er Jahre und der heutigen tristen Realität präsentiert.

Von Ost nach West nur dreimal am Tag ein richtiger Fernzug? Neu-Berlins gigantisches Schienenkreuz am alten Lehrter Stadtbahnhof droht zum Schildbürgerstreich zu verkommen
 
     
     
 
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