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Es war einmal, so beginnen alle Märchen. Aber wirklich: es war einmal ein alter Mann, der lebte zusammen mit seinem Sohn auf einem kleinen Hof in den Bergen. Sie besaßen nur ein Pferd, mit dem sie die kärglichen Felder bestellten.
Eines Tages geschah ein großes Unglück: das Pferd war verschwunden. Gestohlen? Weggelaufen? Man wußte es nicht. Die Nachbarn kamen zu dem Mann und beklagten sein Leid: "Welch ein schreckliches Unglück!"
Der Alte aber schüttelte den Kopf und sagte: "Welch ein Unglück? Sagt doch einfach - das Pferd ist weg. Wer weiß, ob es gut ist oder schlecht."
Eine Weile später kehrte das Pferd zurück, und es brachte andere Pferde mit, die es in der Wildnis angetroffen hatte. Die Nachbarn kamen herbeigeeilt und jubelten: "Welch ein großes Glück!"
Der alte Mann aber schüttelte den Kopf, sah die Leute an und sagte mahnend: "Welch ein Glück? Sagt doch einfach: das Pferd ist wieder da. Wer weiß, ob es gut ist oder schlecht?"
Der Sohn aber begann, die wilden Pferde zu zähmen. Dabei geschah es, daß er sich ein Bein brach. Es half nichts, der Alte mußte fortan die Arbeit allein erledigen. Die Nachbarn bedauerten ihn und sagten: "Welch ein Unglück!"
Der Alte aber schüttelte den Kopf und meinte: "Sagt einfach, der Sohn hat sich ein Bein gebrochen. Wer weiß, ob es gut ist oder schlecht."
Als dann ein schrecklicher Krieg ausbrach und alle jungen Männer eingezogen wurden, da hatte der Sohn des Bauern Glück. Sein gebrochenes Bein hatte ihn davor bewahrt, in den Krieg ziehen zu müssen. Wer weiß ...?
Es gibt so viele Dinge im Leben, die man von zwei Seiten betrachten kann. Glücklich ist der, der selbst in ausweglos scheinender Situation einen Lichtstrahl am Horizont entdecken kann. Glücklich ist der, der in grauen Tagen das Weihnachtslicht ahnt und im Schein der Kerzen einen Hoffnungsschimmer sieht. Ob es gut ist oder schlecht, weiß schließlich nur der Eine ... |
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