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Politische Grundüberzeugungen zählen in Deutschland nicht mehr viel - die Bundesbürger geben die traditionelle Bindung an die Partei, die sie gewählt haben, auf und urteilen hart nach der politischen Leistung, die sie auf der Berliner Bühne sehen. Treue Parteigänger sind inzwischen die Ausnahme geworden.
Anders läßt es sich nicht erklären, warum nach nur einem Jahr die politische Welt in Deutschland auf den Kopf gestellt ist. Angela Merkel und Franz Müntefering hatten am 11. November den Vertrag über die Große Koalition unterzeichnet - nur linientreue Karnevalisten konnten dies damals als schlechtes Omen nehmen. Elf Tage später, am 22. November wurde das Kabinett der Kanzlerin Merkel vereidigt.
Die Deutschen hatten sich die Große Koalition möglichst stark gewünscht, um die gewaltigen Reformaufgaben für das Land schultern zu können.
Exakt ein Jahr später müßte Angela Merkel sich mit der Rolle der Vizekanzlerin begnügen und die politische Führung der SPD überlassen: Erstmals seit 2002 ist die SPD nach den Umfragen des Forschungsinstitutes Infratest dimap wieder stärkste politische Kraft in Deutschland: 33 Prozent der Deutschen würden die Sozialdemokraten wählen. Die Unionsparteien könnten sich nur noch auf 30 Prozent der Wähler stützen. Von "Großer" Koalition kann man bei diesen geschrumpften Zahlen eigentlich kaum noch sprechen.
Erheblich ist vor allem der Vertrauensverlust der agierenden Parteien. Vor Jahresfrist startete das Regierungsbündnis mit einem guten Vertrauensvorschuß: Mehr als 60 Prozent der Deutschen glaubten, daß das Duo Merkel-Müntefering die Probleme des Landes rasch in den Griff bekommen werde. Inzwischen ist das Lager der Regierungskritiker so stark wie noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik: 81 Prozent der Bundesbürger vertrauen der Regierung nicht mehr.
Gerade auf den Gebieten, die aus innenpolitischer Sicht vordringlich sind, konnte die Große Koalition nicht überzeugen: Gesundheitswesen, Renten, Beschäftigung und vor allem Steuern; die überwiegende Zahl der Befragten vergibt schlechte Noten.
Die CDU wird bei der Sonntagsfrage der Demoskopen am härtesten bestraft. Angela Merkel ist von ihren "Parteifreunden" umstellt. Zuletzt hatten Roland Koch aus Hessen ("Keine Reformkraft mehr"), NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers ("Soziale Lebenslügen") und Edmund Stoiber aus Bayern (generelles Vetorecht gegen die Gesundheitsreform) die Bewegungsfreiheit der Kanzlerin eingeschränkt. Soviel Uneinigkeit ahnden die Wahlberechtigten, wenn man sie zu Wort kommen läßt: 61 Prozent der befragten Bundesbürger kleben den Unionsparteien das Etikett "Eher zerstritten" auf. Der CDU-Bundesparteitag in Dresden Ende November wird Angela Merkel alles an Integrationskraft abverlangen, was sie als Parteichefin aufbieten kann, um bei den Vorstandswahlen keine Überraschungen erleben zu müssen.
Die SPD profitiert von den Machtkämpfen im konservativen Lager, nur zwölf Monate nach dem Neuwahl-Debakel und trotz doppeltem Vorsitzenden-Wechsel sind die Sozialdemokraten dabei, den Schröder-Fischer-Bankrott vergessen zu machen. Auf welchem Weg? In Politik-Magazinen wie dem "Focus" rumoren inzwischen Schätzzahlen, daß rund 100 der 222 SPD-Bundestagsabgeordneten die rot-grüne Koalition gern wieder aufleben lassen wollen, dieses Mal verstärkt um die Post-Kommunisten zwischen Gregor Gysi und Oskar Lafontaine. |
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