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Hilfstransporte

 
     
 
Die alte Frau wird immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt. Oma Mettkeim "vorne" – so nennen wir sie, um sie von ihrer Nachbarin Oma Mettkeim "hinten" zu unterscheiden – erzählt uns von ihrem Mann. Am 11. Juli dieses Jahres ist er gestorben. Im April hatten wir sie zuletzt besucht. Wir brachten Bekleidung, Lebensmittel und etwas Geld. Da lag "Opa Mettkeim" bereits seit 16 Monaten im Sterben. Nach einer Beinverletzung, die im Krankenhaus aus Kostengründen
nicht mehr behandelt wurde, faulte nun sein linkes Bein ab. Das Bein war pechschwarz, der große Zeh war schon abgefallen. Wir sahen ihn komatös im Bett liegen und vor Schmerz stöhnen. Verwesungsgeruch lag im Raum, so daß wir kaum atmen konnten. Oma Mettkeim "vorne" flehte uns weinend um Hilfe, die wir nicht leisten konnten.

Jetzt – sechs Monate später – sind wir wieder hier. Voller Angst, was uns nun erwartet. Marianne Mattern aus Hamburg und Ulrike Schröter aus Dortmund fahren zweimal im Jahr nach Königsberg und in entlegene Dörfer. Hierher kommt kaum ein Hilfstransport. Als Helfer sind dabei: Bernd, Claudia, Antje, Michael und Robert. Sie kommen aus allen Teilen der Bundesrepublik Deutschland, um Marianne und Ulrike zu unterstützen. Ich begleite das Team mit dem Fotoapparat.

Oma Mettkeim "vorne" erzählt uns nun vom qualvollen Sterben des Opas. Das faulige Fleisch kroch noch bis zur Brust hoch. Zum Schluß holten sich die Hunde das Bein. Wir sind völlig entsetzt. Das Leid, nur 1000 Kilometer von unserer Haustür entfernt, macht uns sprachlos. Immer wieder nehmen wir sie in die Arme.

Gemeinsam gehen wir jetzt zu Oma Mettkeim "hinten". Sie lebt im selben Haus mit ihrer alkoholabhängigen Tochter und drei Enkelkindern. Die Männer konnten das dörfliche und das familiäre Elend nicht mehr ertragen und verließen ihre Familien. Sie hofften, in der Stadt besser überleben zu können. Der Ofen, der bei unserem letzten Besuch schon nicht mehr richtig zog, funktioniert nun überhaupt nicht mehr. Der Gasherd kann mangels Brennstoff nicht mehr benutzt werden. Gekocht wird jetzt auf einer Kochstelle im Garten. Zu essen gibt es seit Wochen nur Äpfel und Kartoffeln.

Oma Mettkeim "hinten" erzählt uns, daß sie im Frühjahr eine starke Bronchitis hatte. Sie wollte nicht mehr leben. Aber irgendwie ging es dann doch weiter.

Die drei Kinder machen einen verstörten Eindruck, sind psychisch und körperlich krank. Der kleine Junge, er ist fünf Jahre alt, scheint nicht mehr wachsen zu wollen. Gezeichnet von der Trunksucht seiner Mutter, schaut er mich mit leeren Augen an. Die Gesichter der beiden älteren Schwestern sind geprägt von dem großen Leid ihres jungen bisherigen Lebens. Ich mache Aufnahmen. Im Sucher meiner Kamera scheint es, als sei ich ganz mit ihnen allein. Es ist, als blickte ich direkt in ihre kleinen Seelen. Was haben diese Kinder erlebt, was steht ihnen noch bevor?

Wir geben ihnen etwas Spielzeug, einige Kuscheltiere aus Stoff und Süßigkeiten. Spielzeug ist offiziell verboten, ist keine "humanitäre Hilfe". "Russische Kinder bekommen davon Allergien", heißt es.

Wir müssen weiter, die nächste Familie besuchen. Eine Woche sind wir unterwegs. Eine Woche verteilen wir Hilfe. Viele Hilfesuchende müssen wir zurückweisen, weil unsere Hilfsgüter nicht reichen. Das ist deprimierend. Wir trösten uns damit, wenigstens einigen Menschen Hoffnung gegeben zu haben. So sagte Oma Mettkeim "vorne" uns zum Abschied: "Ich verspreche Ihnen, nicht mehr zu weinen. Daß Sie mich wieder besucht haben, zeigt mir, daß ich doch nicht alleine bin, daß es Menschen gibt, denen ich nicht egal bin, die an mich glauben, die mit mir fühlen. Das gibt mir die Kraft, selbst wieder in die Zukunft zu sehen, an meine eigene Zukunft zu glauben. Mein Leben ist noch nicht vorbei."

Marianne und Ulrike haben – unterstützt von der Martinskirchengemeinde in Hamburg-Rahlstedt und der Heliandgemeinde in Dortmund – ein halbes Jahr gesammelt, Vorträge gehalten, sich mit russischen Behörden herumgeschlagen, in mühevoller Arbeit alle Sachspenden überprüft und gepackt. Es dürfen nur Textilien und Schuhe eingeführt werden. Keine Spielsachen oder Medikamente. Bei Lebensmitteln werden mit Formalien und sonstigen Vorschriften solche Barrieren aufgebaut, daß wir lieber Bargeld mitnehmen und Lebensmittel vor Ort kaufen. Der Zoll kontrolliert die Ladung – diesmal fast 1000 Kartons. Bei Verstößen ist der gesamte Transport gefährdet, die Arbeit umsonst.

Der größte Teil der Spenden geht diesmal an ein Internat, eine Art Sonderschule mit Waisenhauscharakter. Hier leben 130 lern- bzw. geistig behinderte Kinder. Viele stammen aus Alkoholikerfamilien oder die Eltern sind im Knast. Sie sind zwischen sieben und 18 Jahren alt. Einige tragen eine Schuluniform, die anderen "zivil". Die Erziehung ist drillmäßig. Die Kinder und die Schule selbst sind pieksauber.

Das Ziel der Schule ist nicht nur die Vermittlung einer Grundausbildung, vielmehr sollen die Kinder auf das anschließende Berufsleben vorbereitet werden. Daher nehmen die Kinder ab der fünften Klasse neben dem Schulunterricht an einer praktischen Berufsausbildung teil.

Die Sauberkeit der Schule kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß an allen Ecken und Enden etwas fehlt.

Aus unseren Spendengeldern besorgen wir das Nötigste, nämlich Unterrichtsmaterial wie Hefte, Schreiber, Malpapier, Buntstifte.

Bei einer unserer Fahrten durch Königsberg sehen wir erstmals "Kanalkinder". Es sind Kinder im Alter zwischen sieben und 14 Jahren, die in der Kanalisation leben. In der Nähe des Hotels sehen wir zwei Kinder durch einen geöffneten Kanaldeckel in ihre Unterwelt hinabsteigen. Als wir selbst hinkommen, sehen wir in eine Höhle voller Unrat. Ein Mann liegt darin und schläft. Von den Kindern keine Spur. Vielleicht gelingt uns eine Kontaktaufnahme beim nächsten Mal, denn wir kommen im April wieder.

 

 
     
     
 
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