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Die Zahl der Menschen, die bei eisiger Kälte in Rußland erfroren sind, ist auf weit über 100 angestiegen. Energieproduzenten und Politiker streiten darüber, was zu tun ist und wer Schuld hat, Reparaturmannschaften arbeiten – so gut es halt geht – rund um die Uhr, um den GAU zu vermeiden.
Es ist ein Wettlauf gegen „Väterchen Frost“, der Heizungssysteme und veraltete Rohrleitungen zum Bersten bringt, wegen eingefrorener Oberleitungen und gebrochener Gleise den Bahnverkehr lahmlegt, Autos nicht anspringen und Arbeitnehmer in Büros ohne Strom und Heizung sitzen läßt. Väterchen Frost, mit dessen Hilfe die Russen große Schlachten gewannen, richtet sich jetzt gegen seine Verbündeten.
Der Energieriese Rußland ist trotz Öl- und Gasreichtums am Limit seiner Belastbarkeit angelangt. Rächt es sich nun, daß seit der Wende die „Neuen Russen“ sich mit derselben Gleichgültigkeit gegenüber einer funktionierenden Infrastruktur in ihrer „demokratischen“ Gesellschaft gezeigt haben wie ihre sowjetischen Vorgänger, ihnen persönliche Bereicherung wichtiger war als eine flächendeckende Versorgung vieler mit dem Lebensnotwendigen? Der Zahltag ist gekommen: Allein in Moskau wurden nach einer Woche Dauerfrost bereits viele Firmen, Behördengebäude und Unternehmen von der Strom- und Heizungsversorgung abgeschaltet, um wenigstens die Versorgung der Wohnhäuser aufrechterhalten zu können. Angestellten wurde geraten, ab minus 30 Grad zu Hause zu bleiben, Schulen und Kindergärten wurden geschlossen.
In Podolsk, einem Vorort von Moskau, mußten nach dem Bersten der Hauptrohre 12000 Menschen in Eiseskälte ausharren.
Reparaturmannschaften quälten sich, die Leitungen notdürftig zu flicken.
In einigen Regionen Sibiriens geht gar nichts mehr, es mußten sogar Orte evakuiert werden. Bislang konnte durch eine Erhöhung der Heizkapazitäten und Rückgriff auf Notreserven die Energieversorgung in den meisten Regionen aufrechterhalten werden. Gefährlich wird es, wenn die zum Teil veraltete Haustechnik der Dauerbelastung zum Beispiel durch erhöhte Stromdurchleitung nicht standhält. Kurzschlüsse haben bereits in mehren Städten Brände verursacht. Für die Feuerwehr eine echte Herausforderung, denn die zugefrorenen Wasserhydranten bereiten zusätzliche Probleme.
Im Königsberger Gebiet sieht es im Vergleich zu anderen Regionen noch relativ ruhig aus. Waren die Bewohner des Gebiets bislang daran gewöhnt, im Winter zu frieren, weil Politiker und Heizwerkbetreiber es über Jahre nicht geschafft hatten, für funktionierende Wärmesysteme zu sorgen, so hatten sie in diesem Jahr nach der Inbetriebnahme des neuen Heizkraftwerks „TEZ 2“ und dem Austausch veralteter Leitungen im vergangenen Jahr auf Besserung gehofft.
Mit einem sibirischen Kälteeinbruch mit Temperaturen von minus 18 Grad am Tag und über minus 25 Grad in der Nacht hatte jedoch niemand gerechnet. An Winter mit klirrendem Frost, wie er damals üblich war, erinnern sich zwar noch viele Ostdeutschland, aber Kälteeinbrüche dieser Dimension hat es seit Beginn der Temperaturaufzeichnung selten gegeben.
Ob die Heizwerke bei länger anhaltendem strengen Frost und ständiger Ausschöpfung ihrer Höchstkapazitäten standhalten, ist die große Sorge aller Verantwortlichen in der Region. Der Bürgermeister appellierte deshalb auch an die Bürger, möglichst sorgsam mit dem Energieverbrauch zu sein und Geräte, die viel Strom verbrauchen, in Stoßzeiten (morgens und abends) möglichst nicht zu benutzen sowie Eingangstüren und Fenster in Hausfluren geschlossen zu halten, damit keine Wärme entweicht und Heizungsrohre nicht einfrieren, wie es bereits im Keller eines Hauses vorgekommen ist.
Die Gebietsregierung gab in einer Presseerklärung bekannt, daß sie nicht mit großen Beeinträchtigungen der Strom- und Wärmeversorgung rechne, solange es in Litauen nicht zu Versorgungsengpässen käme, von wo der Strom ins Gebiet geliefert wird. Ein Schwachpunkt seien jedoch alte Häuser, deren Elektroleitungen ausfallen könnten. Für den Fall, daß die Lebensmittelversorgung (besonders mit Milch und Brot) durch Energieknappheit bedroht werde, müsse zu strengen Einsparmaßnahmen gegriffen werden, hieß es. Vorsorglich blieben sämtliche Schulen seit dem 20. Januar geschlossen.
Die Menschen, die besonders stark unter der Kälte leiden, sind die Obdachlosen. Allein in Moskau gibt es 50000 von ihnen, die seit den Todesfällen der vergangenen Woche in U-Bahnhöfen campieren dürfen. Im Königsberger Gebiet wurde bislang nichts über die in Wintern normale Anzahl Erfrorener Hinausgehendes bekannt. Was aus den Königsberger Straßenkindern geworden ist, und wie viele von ihnen noch in Kanalisationsschächten und unter Heizungsrohren leben bei diesen Temperaturen, ist jedoch nicht bekannt. Seit einigen Jahren haben sie die Möglichkeit, als Anlaufstelle die Einrichtungen verschiedener Hilfsorganisationen zu nutzen.
Im ehemaligen Kinderhaus Nr. 1, 1993 von der „Freundschaftsbrücke Deutschland e. V.“ unter jenem Namen gegründet, und mittlerweile in „Schmetterling“ umbenannt, meldeten sich in der vergangenen Woche 25 Kinder und Jugendliche. Hier können sie bleiben. Wenn sie sich entschließen, die angebotene Hilfe anzunehmen, können sie für maximal sechs Monate hier wohnen, um wieder Fuß zu fassen. Danach werden sie entweder in Waisenhäuser oder in ausgewählte Pflegefamilien überführt. Diesem Problem widmet sich seit kurzem auch der neue Gouverneur Boos.
Wenn der Dauerfrost, wie vorausgesagt, bis Ende Januar anhält, wird sich zeigen, ob Rußland wirklich in der Lage ist, „Väterchen Frost“ zu trotzen. Denn neben der Versorgung des eigenen Landes muß Rußland seinen zahlreichen Verpflichtungen aus Energielieferverträgen nachkommen. Als zuverlässiger Lieferant wird Rußland nun hart auf die Probe gestellt.
Eisschlittern vor dem Reichstag: Während die eisigen Temperaturen in Deutschland für die Menschen meistens nur unangenehm sind, beeinträchtigen sie im Osten Europas und in Rußland den gesamten Alltag. |
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