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Ehre - gibt es so etwas noch? Schon vor einem Vierteljahrhundert hat der Soziologe Berger Ehre als Anachronismus bezeichnet und als ebenso überholt wie Keuschheit bezeichnet. Einst galt eine Frau, die sich vor der Ehe mit einem Mann intim eingelassen hatte, als "entehrt", heute werden Jungfrauen von bestimmten Kreisen eher mitleidig belächelt. Falls es keine Ehre mehr gäbe, könnte sich andererseits niemand in seiner Ehre verletzt fühlen. Wenn selbst das Bundesverfassungsgericht in Konfliktfällen, wie zum Beispiel beim Verfahren "alle Soldaten sind Mörder" der Meinungsfreiheit den Vorzug vor dem Schutz der Ehre gibt, liegt es vielleicht daran, daß selbst die Richter keine Vorstellung mehr davon haben, was Ehre denn sei. In heutiger Zeit die Ehre hinten anzustellen wäre grundsätzlich zu verstehen, wenn es sich nur um ein Relikt der ständisch gegliederten Gesellschaft handelte. Daß Ehre nach Beruf, Herkunft, Geschlecht, Alter variiert, bei sozialen Gruppen unterschiedlich gelagert ist, in Erwerbsgesellschaften allenfalls eine untergeordnete Rolle spielt, gehört zu den Erkenntnissen unserer Zeit. Bindungen scheinen sich vermehrt aufzulösen und mit ihnen die Sitten. Selten zuvor war vieles so schnell im Umbruch wie heute. Trotzdem gibt es immer noch Staaten, Schichten, Milieus, Institutionen, Berufe, in denen es weiterhin allgemeine und besondere Formen von Ehre gibt. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Berufsehre bis hin zur Ganovenehre.
Jede Gemeinschaft wird zusammengehalten durch Werte, die durch ungeschriebene und geschriebene Übereinkünfte geschützt werden. Sie verstärken die Bindekraft einer Gruppe, indem sie Ehre zuteilt oder abspricht. Ihre Höchststrafen sind Isolation und Schande. Je stärker die Übereinstimmung im gemeinsamen Ziel ist, desto weniger bedarf es der Reglementierung. Ansprüche an die Ehre jedes einzelnen werden dadurch aber keineswegs aufgehoben. Der geflissentlich übernommene Imperativ Political Correctness schaffte sich rasch nur in Deutschland Geltung, die zwischenzeitlich in Tugendterror auszuarten droht.
Namentlich diejenigen, die verächtlich behaupten, daß Ehre längst obsolet sei, jaulen empfindlich auf, wenn sie sich in ihrer Ehre verletzt glauben. Schuld an derartiger Doppelzüngigkeit ist die Wahrnehmung beziehungsweise Verinnerlichung von Ehre. Es ist eine Illusion zu glauben, der Mensch könne in seiner Selbstachtung völlig auf die Meinung anderer verzichten. Innere und äußere Ehre bilden eine Einheit, Tugend und Reputation verbinden sich zur Würde. Kant spricht von Ehre als "Hochschätzung, die ein Mensch von anderen wegen eines inneren moralischen Wertes erwarten darf".
Wegen dieser Verzahnung sind böswillige Angriffe auf die jedem Menschen innewohnende Ehre so schmerzlich. Indem Ehre nicht ausschließlich aus Selbstbespiegelung erwächst, sondern auch der Anerkennung des anderen bedarf, ist - frei nach Hegel - "die Ehre das schlechthin Verletzliche".
Um von seiner Umwelt anerkannt zu werden, ist der Mensch ehrgeizig. Durch Können und Fleiß erwirbt er Ehre. Ihn schätzen und ihm vertrauen die Menschen. Der ihm entgegengebrachte Vertrauenskredit bedarf allerdings der pfleglichen Handhabung. Reputation verspricht einerseits Einfluß und Macht, schürt andererseits aber auch Neid, Mißgunst sowie Möglichkeiten, durch das Recht der Meinungsfreiheit jedwede Reputation anzugreifen. Daß dabei die Grenze fließend ist, jenseits derer das persönliche Ansehen und die Menschenwürde verletzt werden, wird aus formalen Gründen billigend in Kauf genommen, solange man nicht selbst betroffen ist.
Jeder lebt in bestimmten Lebenskreisen, und jeder Kreis hat seine eigenen ungeschriebenen Gesetzmäßigkeiten, die einander durchaus widersprechen können. Daher kann Ehre mit Ehre nicht nur aufgrund der Zugehörigkeit zu Gruppen, Kreisen in Konflikt geraten, sondern auch in Folge einer doppelten Staatszugehörigkeit. In dem hier lebenden Völkergemisch ist zu klären, ob es nicht wenigstens eine allen gemeinsame Ehre gibt, die aus dem Zusammenhang von Ehre und Freiheit erwächst.
Im Mittelalter wurde der Unfreie als unehrlich bezeichnet. Wer "unehrlich" war, war zugleich rechtlos. Ein Mann von Stand, Reputation und Ehre durfte einen Unfreien, Unehrlichen grundlos und unwidersprochen kränken, beleidigen. Dies auf heutige Verhältnisse zu übertragen, wäre absurd. Der Rechtsstaat verhindert Rechtlosigkeit. Dennoch ist, abgesehen von wenigen Ausnahmen, niemand vor böswilliger Kritik gefeit. Daß solche Art Kritik auf die Ehre und Würde eines Menschen Rücksicht nimmt, sollte jedem Kritiker Selbstverständlichkeit sein. Der höchstrichterliche Freibrief, der zuläßt, daß "Soldaten pauschal als Mörder" bezeichnet werden können, hat jener Grenzziehung leider nicht wirklich entsprochen.
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