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Ich möchte mich heute mit der Frage befassen, was wir aus der Geschichte lernen können und gelernt haben. Eine, so scheint mir, hochaktuelle Frage, deren Aktualität ich so für den heutigen Abend nicht vorausgesehen hatte. Denn die bisher wohl einmalig offene, von keiner Blockzugehörigkeit betrachtete Debatte über die Irak-Frage im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hatte ausgesprochene und unausge- sprochene geschichtliche Bezüge.
Immer wieder hörten wir von den Befürwortern eines Ultimatums mit, bei Nichtbefolgung, klar ausgesprochenen Kriegskonsequenzen den Bezug auf die ersten Jahre der Hitlerdiktat ur. Hätte man damals, hätte man, zum Beispiel. beim Einmarsch der Wehrmacht in die entmilitarisierten Zonen im Westen des Reiches, militärisch gedroht und gehandelt - der Zweite Weltkrieg und seine Verbrechen wären der Welt vermutlich erspart geblieben. So wurde gesagt - und daran ist ohne Zweifel etwas Wahres: Hitler war allerdings zu diesem Zeitpunkt aggressiv; er stand nicht seit Jahren unter Flugüberwachung und seit Monaten unter Kontrolle einer landesweiten Waffen- Inspektion der Vereinten Nationen; er hatte nicht begonnen abzurüsten; die Nachbarn im Westen und Osten waren dem deutschen Volk nicht emotional verbunden; und: es gab eben keinen funktionsfähigen Völkerbund, sprich Vereinte Nationen.
Eine andere, weniger deutlich erkennbare Lehre ließe sich vielleicht statt dessen ziehen: Hätten die Vereinigten Staaten von Amerika damals den Völkerbund gestützt, wären sie selber Mitglied gewesen und hätten sie diese erste internationale Schlichtungseinrichtung respektiert und sich eben nicht schon damals in Ablehnung des Beitritts das Recht zu unilateralem Verhalten zu jeder Zeit vorbehalten; hätte man Deutschland nach 1918 nicht gedemütigt; hätte man sich vor 1933 den wirtschaftlich-sozialen Problemen mit mehr Sorgfalt zugewandt als den machtpolitischen - die Krise von 1929 bis 1932 und ihre Frucht Adolf Hitler wären sehr viel weniger wahrscheinlich gewesen. Beachten wir aber diese Lehren heute?
Vor einigen Jahren hat der Historiker Hans Ulrich Wehler einen Essay-Band "Lernen aus der Geschichte?" veröffentlicht. Ein interessantes Werk zum Studieren, gerade in unseren Tagen. Denn vor wenigen Tagen veröffentlichte nun dieser Doyen der deutschen Historiker einen wütenden, polemischen Angriff gegen den vernachlässigenden Umgang mit der Geschichtswissenschaft in den Schulen Nordrhein-Westfalens. Seine Kritik, die Kritik eines prominenten Vertreters einer unnachgiebigen Auseinandersetzung mit den Fehlentwicklungen Deutschlands, mag manchen verwundert haben, denn vergleichbare Kritik war doch seit den hessischen Rahmenrichtlinien der 60er und 70er Jahre bisher eher von der deutschen Rechten zu hören. Wehler befürchtet, in NRW werde man über den Nationalsozialismus nicht mehr genug in den Schulen erfahren. Meine Befürchtungen gehen sogar noch weiter. Betrachten wir die Entwicklung mit etwas mehr Abstand.
Heute, bald 60 Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft in Deutschland, werden täglich immer neue Einzelheiten über Nazigrößen und Naziverbrechen bekannt. Unsere Buchläden sind gefüllt mit Berichten über Leben und Psychologie der Nazigrößen und ihrer Verbrechen. Wir erfahren, wer in der damaligen deutschen Gesellschaft versagte, wer welche Verbrechen beging. Können Verbrechen früherer Generationen wirklich ein ausreichender politischer Kompaß in eine bessere Welt sein? Hat ein solcher Weg der ständigen Konfrontation mit sündhafter Vergangenheit jemals bei persönlicher Resozialisierung funktioniert? Wohin aber hat uns eine "Vergangenheitspolitik" geführt, die kaum an die Aufrechten des Widerstands erinnert, aber immer wieder an Verbrechen und Verbrecher?
Wissen und Erinnern der historischen Verbrechen Deutschlands ist notwendig und stand in den 50er und 60er Jahren noch in den Anfängen. Aber daß die meisten Deutschen heute die Naziverbrechen kennen und erinnern, dafür haben wir in Deutschland wirklich gesorgt. Wir wissen das nun aus der Geschichte. Aber was haben wir und andere Völker aus der deutschen Katastrophe gelernt? Nicht nur gewußt - sondern gelernt?
Zunächst fällt auf, wie oft nach 1945 die Geschichte der Nazizeit in fragwürdiger Weise bemüht wurde. So wurde, zum Beispiel, schon in den frühen 50er Jahren die deutsche Beteiligung an einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft bekämpft und jeder Wiederbewaffnung Deutschlands, auch im Rahmen der Nato, heftig widersprochen. Mit welcher Vehemenz schleuderte damals die große Mehrzahl deutscher Intellektueller der Regierung Adenauer ihr "Nie wieder" entgegen? Interessanterweise kam dieser Protest schon damals weniger von den Völkern im Westen, die im Krieg 1939/1945 von uns überfallen worden waren, als von den Deutschen selbst. Der Mißbrauch deutschen Militärs durch die Nazis nämlich - oder besser: die willige Bereitschaft deutschen Militärs nach 1933, sich vor den Karren der Aufrüstungspläne Hitlers spannen zu lassen -, dies und das militärische Säbelrasseln einer längst vergangenen, wilhelminischen Kaiserzeit galten als eine überzeugende Begründung für den Satz: Nie wieder eine deutsche Armee, nie wieder deutsches Militär. Obwohl es doch nun, in den 50er Jahren, um unseren Beitrag zu einem demokratischen Bündnis ging, um ein Bündnis gegen das aggressive, totalitäre System der Sowjetunion, und obwohl kein Land damals in unmittelbar größerer Gefahr war als die demokratische Bundesrepublik Deutschland mit ihrer geteilten Hauptstadt Berlin.
Gut 50 Jahre nach dem Ende des Nazikrieges kehrte jenes "Nie wieder" in der Debatte um die deutsche Beteiligung im Balkan-Konflikt noch einmal auf die politische Bühne zurück. Heute, wenige Jahre später, erscheint diese damalige, prinzipielle Debatte nur noch wie eine Farce: Deutsche Soldaten kontrollieren in Mazedonien, stehen im internationalen Einsatz im Kosovo und in Afghanistan, und Marineeinheiten operieren am Horn von Afrika. Auch die Irak-Debatte ist auf deutscher Seite keine pazifistische Debatte, sondern eine über politische Vernunft, über die langfristigen Folgen der einen oder der anderen Lösung. Das sind heute demokratische Selbstverständlichkeiten, das ist friedenspolitische Normalität. Die "Nie wieder"-Lehren aus der Vergangenheit, die einst so selbstgewiß zitiert wurden - wo sind sie geblieben?
Seit Anfang der 50er Jahre haben wir Debatten dieser Art immer wieder geführt. So wurde der Einrichtung eines Verfassungsschutzes und des militärischen Abschirmdienstes, zum Beispiel, von vielen Intellektuellen mit dem Hinweis auf die Gestapo leidenschaftlich widersprochen, obwohl es natürlich seit eh und je FBI- und CIA-Einrichtungen nicht nur in den USA, sondern in allen demokratischen Gesellschaften gab. Wo stünden wir auch heute ohne diese Einrichtungen bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens, des Extremismus oder des Terrorismus? Noch in den 80er Jahren sollte sogar eine Volkszählung torpediert werden, weil angeblich die Nazis ein halbes Jahrhundert früher ohne entsprechende öffentliche Register nicht in der Lage gewesen wären, die jüdischen Bewohner aufzuspüren - lächerlich natürlich, für alle diejenigen, die die Nazizeit selbst erlebt hatten. Aber auch hier: das moralisch selbstgewisse "Nie wieder" der Nachgeborenen.
Gegen die Einführung eines verpflichtenden Sozialdienstes kommt noch heute wie ein Reflex die Erinnerung an den Arbeitsdienst der Nazis. Oder, weil die deutschen Universitäten nach 1918 auch ein Hort nationalistischer Studenten und Professoren geworden waren und damit unbestreitbar für die Nationalsozialisten ein Einfallstor in die Gesellschaft gebildet hatten, deswegen mußte dann in den 70er Jahren die Ordinarien-Universität zerstört und eine gruppendemokratische Leitungsstruktur eingeführt werden, die für Jahrzehnte - wenn nicht für immer - die deutschen Universitäten zur Zweitrangigkeit verurteilte. Im Namen angeblicher Lehren aus der deutschen Geschichte.
Die 68er an unseren Universitäten wollten damals "Marx an die Uni", und sie belehrten uns, daß es nichts Schlimmeres geben könne als eine Verbindung von Universitäten und Wirtschaft. "Industrieforschung" wurde ein vernichtendes Schimpfwort, denn angeblich hatte ja in erster Linie die Großindustrie Hitler finanziert. Heute suchen die Besserwisser von gestern selbst aufgeregt nach Quellen der Drittmittelforschung aus der deutschen Wirtschaft.
Zugleich ließ damals die Art und Weise der Auseinandersetzung an den Universitäten in erschreckender Weise erkennen, daß gerade der aktivste Teil dieser jungen Generation selbst wenig aus Weimar gelernt hatte, wo Nazistudenten Andersdenkende tyrannisierten. Mit Geschrei und sogar körperlicher Gewalt unterdrückte eine recht totalitär gestimmte Minderheit der 68er Studenten den freien, demokratischen Dialog. Und die Mehrheit kuschte. Sie verurteilt die Väter in der Nazizeit: Aber wo blieben nun ihr Mut und ihre Zivilcourage, die sie so lautstark bei ihren Eltern vermißt hatten?
Es ist auch nur wenige Jahre her, daß Bemühungen, türkischen oder anderen Zuwanderungskindern die Erlernung der deutschen Sprache zur Pflicht zu machen, als "rassistisch" verteufelt wurde, man sprach von "Zwangsgermanisierung". Heute, nach "Pisa", werden solche Bemühungen zur Pflicht aller Kultusminister.
Oder: Wenn heute in Deutschland im Zusammenhang mit den Fragen der Gentechnologie und Stammzellenforschung auf den Holocaust und die Eugenik-Debatte des 19. Jahrhunderts in Deutschland verwiesen wird, dann sollte man doch wenigstens wissen, daß es vor 1933 Zwangssterilisationen zwar in den USA und Skandinavien gab - aber nicht in Deutschland.
Offenbar müssen wir sehr viel bescheidener werden mit dem ständigen Verweis auf die Naziperiode unserer Geschichte. Liegen die vielen falschen Geschichtsbezüge vielleicht daran, daß es keine objektive Debatte darüber gab und gibt, wie es überhaupt zum Entstehen, dann zur "Machtergreifung" des Nationalsozialismus und schließlich zur Terrorherrschaft und zum Völkermord kommen konnte? (Wird fortgesetzt)
Dr. Klaus von Dohnanyi, geb. 1928 in Hamburg, ist seit 1957 Mitglied der SPD. Von 1969 bis 1981 gehörte er dem Deutschen Bundestag an. Von 1972 bis 1974 war er Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, von 1976 bis 1979 Staatsminister im Auswärtigen Amt, von 1981 bis 1988 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg.
Der in dieser Serie dokumentierte Text basiert auf einem Vortrag der Akademie für Politische Bildung Tutzing in der vom Bayerischen Landtag veröffentlichten Fassung.
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