A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
     
 
     
 

Ein nationalistischer Lunapark

 
     
 
Den Bauern in Lichen geht es heute gut. Nicht deshalb, weil das Land oder das Vieh satte Erträge liefern würde. Den Leuten war früher schwere Arbeit auferlegt, Geldsegen kannte niemand. Nicht einmal ein Pferd konnte man sich leisten. Kühe zogen hier einst den Ackerpflug. Der Boden ist auch heute noch schlecht, allerdings wächst seit sechs Jahren auf gerade diesem Boden ein Bauwerk empor, das den Bauern in Lichen satte Einnahmen bringt. Es wird eine Kirche gebaut. Nicht irgendeine, wie man es für ein Dorf vermuten sollte: Der Ortspfarrer Eugeniusz Makulski baut zu Ehren der "Muttergottes von Lichen" das siebtgrößte Gotteshaus der Welt.

Die Geschichte von Lichen begann 1850. Damals "erschien einem Schafhirten" die Muttergottes und verkündete ihm, daß hier in Lichen zu ihrer Ehre eine Kirche entstehen soll. Genau das geschah, und das Dorf wurde zu einem Marienwallfahrtsort, einer von vielen in einem Land, wo das polnische Volk die Jungfrau Maria, die Mutter Gottes, als Königin verehrt. Nachdem Eugeniusz Makulski die Pfarrstelle in Lichen übernahm, erschien ihm im Jahr 1965 erneut "eine Vision". Es müsse eine größere Kirchen erbaut werden, eine richtige Basilika. So fing er an, den Bauern ihr Land nach und nach abzukaufen. Und nach der politischen Wende konnte er seine Vision endlich verwirklichen. Sieben Architekt
en scheiterten zunächst an der Vorstellungskraft des Pfarrers. Die Basilika solle den "Dank der polnischen Nation" an Maria symbolisieren, die dem Volk und dem Land in den dunklen Jahrhunderten hindurch beigestanden habe. Etwas, was die sieben Kandidaten offensichtlich nicht verstanden. Ihre Einwürfe erschienen dem Auftraggeber entweder zu modern, oder aber die Basilika geriet zu klein. Nun wird sie aber gebaut: Marmor, Glas, viele Betonsäulen – und vor allem, sie wird gewaltig. Wer von Konin aus Richtung Lichen fährt, kann die Basilika bereits aus zehn Kilometer Entfernung erkennen. Je näher man kommt , desto gewaltiger wächst sie an, wie ein Hefekuchen. 27 000 polnische Katholiken sollen ab dem nächsten Jahr hier zu Ehren der Muttergottes beten können. Dann soll das hundert Meter hohe Bauwerk fertig sein und bis dahin hundert Millionen Mark verschlungen haben. Der Baustil erinnert an den Petersdom in Rom, dort, wo im Vatikan seit 21 Jahren der "größte Wissenschaftler des Jahrhunderts" residiert, wie sich Makulski gerne ausdrückt. Der nun größte polnische Marienwallfahrtsort besteht aber nicht nur aus der Basilika, sie umgibt ein weitläufiger Park, der sich wiederum aus kleineren Themenparks zusammensetzt. Verschiedene Bibelszenen werden dargestellt, zentral der Leidensweg Christi. Es resultiert wohl aus der besonderen Tradition des im 19. Jahrhunderts in Polen entstandenen Messianismus, nach der das polnische Volk als "Christus der Völker" für die restliche Welt in besonderer Weise leidet, den Glaubensinhalt mit eigentümlicher Akzentuierung zu nationalisieren. Neben der Offenbarung oder der Kreuzigung finden sich in Lichen auch die "biblischen Szenen" des Warschauer Aufstands oder der deutschen Okkupation. Das "Leiden" verdeutlicht eine nachgebaute Gefängniszelle, in der ein Skulpturenpaar darstellt, wie ein polnischer Häftling von einem SS-Soldaten gefoltert wird. Im Zentrum des Parks thront Golgatha. Eine Büßertreppe führt zur Kreuzigungsstätte hinauf. Ein kleiner Teich umgibt ihn, weiße Plastikschwäne schwimmen, elektrisch gesteuert, hin und her. Diese Stätte, so erklärt ein Hinweisschild dem Pilger, zeige den Polen "die drei größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts": Stalin, Hitler – und Jerzy Urban, Sprecher der letzten kommunistischen Regierung und seit der Wende Herausgeber der kirchenfeindlichen, aber erfolgreichen Wochenzeitung "Nie" ("Nein").

Die Bauern von Lichen, die längst keine Kühe mehr besitzen, verdienen gut mit ihren kleinen Bars am Straßenrand, mit dem Verkauf von Devotionalien oder der Vermietung von Toiletten. "Die Kirche ist immer ein sicheres Geschäft", beschreibt Bürgermeister Staszak sichtlich zufrieden die örtliche wirtschaftliche Situation. Seit drei Jahren organisieren die Pfarreien im ganzen Land Pilgerreisen nach Lichen. Jeden Samstag und Sonntag kommen sie in Scharen und bewundern die riesige Baustelle. Die Wallfahrtsstätte sei ein "patriotischer und kirchlicher Lunapark", schrieb hingegen kürzlich eine große polnische Wochenzeitung. Überall hingen polnische Fahnen, die Themenparks seien kitschig. Daß der Papst auch Lichen besuchte und vor dreihunderttausend Pilgern die Basilika einweihte, mag beim politisch raffiniert ausgeklügelten Programm der Pastoralreise kaum verwundern. Denn Lichen bedeutet Größe, nationale Größe in einer sich immer zunehmend säkularisierenden Gesellschaft. Daß während der Messe das Absingen der "Rota" irgendwie dazugehören mußte, bedarf wohl kaum noch erklärt zu werden.

 
     
     
 
Diese Seite als Bookmark speichern:
 
     
     
     

     
 

Weitere empfehlenswerte Seiten:

Wirtschaftliche Zusammenarbeit

Gysis PDS - eine Partei die immer noch spaltet

Lagerleiter von Lamsdorf tot

 
 
Erhalten:
nationalistischer
 

 

   
 
 
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
WISSEN48 | ÜBERBLICK | THEMEN | DAS PROJEKT | SUCHE | RECHTLICHE HINWEISE | IMPRESSUM
Copyright © 2010 All rights reserved. Wissensarchiv