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Eigentlich sollten sie sich hassen, sich gegenseitig Kugeln in den Leib jagen und somit die sich um sie herum türmenden Leichenberge weiter erhöhen, doch sie wollten nicht.
Im Dezember 1914 geschah in Flandern eine ganz besondere Weihnachtsgeschichte, die nun der ehemalige Chefredakteur des Stern, Michael Jürgs, ungewöhnlich einfühlsam nacherzählt. Es waren deutsche Soldaten, hauptsächlich aus sächsischen, westfälischen und hannoverschen Regimentern, die in der ersten Kriegsweihnacht über die Schützengräben hinweg ihren Feinden einen Waffenstillstand anboten, um die Toten zu beerdigen und gemeinsam das christliche Fest zu begehen. Trotz großen Widerstandes einiger Offiziere kam es an mehreren Frontabschnitten zu einer gemeinsamen Feier. Diese "Fraternisierung mit dem Feind" konnten und wollten die oberen Militärs jedoch nicht wahrhaben, schnell versuchten sie die Vorfälle zu kaschieren, doch es war zu spät; Briefe in die Heimat, Tagebucheintragungen und Fotos hatten diesen "Kleinen Frieden im Großen Krieg" für immer festgehalten. Gegenseitige Geschenke, gemeinsamer Plausch und ein Fußballspiel sorgten für eine kurze Atempause im verwüsteten Niemandsland bei Ypres.
Michael Jürgs hat die Abläufe dieser Weihnachtsfeiern intensiv nachrecherchiert. Da sich schon früher einige Autoren mit der unglaublichen Geschichte befaßt haben, gibt es neben schriftlichen Dokumenten auch Tonbandaufnahmen der Zeitzeugen, die Jürgs in seine Arbeit mit einbezieht. Auch versucht er, die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges verständlich zu machen. Hierbei gibt er keiner Seite die Hauptschuld, erklärt nachvollziehbar den jeweiligen Zeitgeist und die Kriegsbegeisterung der Nationen. Doch weder ritterlicher Kampf um die Ehre, Heldentum, Jagdausflug noch sonstige romantische Vorstellungen, die auf allen Seiten noch in den Köpfen aus vorherigen Jahrhunderten vorhanden waren, entsprachen der Realität. Der Stellungskrieg des Ersten Weltkriegs entpuppte sich schnell als die Hölle, die Material und vor allem Menschenleben in ungeahnten Massen verschlang.
"Der kleine Frieden im Großen Krieg" ist ein erschütterndes Antikriegsbuch. Es zeigt auf ergreifende Weise, wie sinnlos Kriege sind, denn die Männer, die 1914 für wenige Stunden Weihnachten miteinander verlebten, mußten tags darauf wieder einander töten. Viele dieser vor allem jungen Männer überlebten dieses Weihnachtsfest nur um wenige Tage. Menschlichkeit ist der Feind eines jeden Krieges, das wußten auch die hohen Militärs, und so war Flandern 1914 etwas in dieser Form Einmaliges. Fritz Hegelmann
Michael Jürgs: "Der kleine Frieden im Großen Krieg - Westfront 1914: Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten", C. Bertelsmann, München 2003, geb., zahlr. Abb., 351 Seiten, 22,90 Euro |
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