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Nesthäkchen

 
     
 
Ingeborg Simon, Jahrgang 1948, von der Mutter liebevoll Marjellchen genannt, beginnt ihre Kindheitserinnerungen aus der Thüringer Nachkriegszeit mit der Schilderung der Flucht ihrer Mutter aus Ostdeutschland. Auf einem Pferdewagen mit ein paar Habseligkeiten sowie vier Kindern im Alter von 15, zwölf, zehn und acht Jahren reiht sie sich ein in einen Flüchtlingstreck Richtung Ostsee. Das Elend um sie herum war groß. Besonders bei den Frauen, deren Männer sich im Krieg befanden, waren Angst und Verzweiflung ein ständiger Begleiter. Als es hieß, alle Jungen ab 15 Jahren seien bei den zuständigen Behörden zu melden, versteckte die Mutter ihren Ältesten im Pferdewagen. „Meine Kinder dienen niemals nicht als Kanonenfutter“, murmelte sie vor sich hin.

Wie durch ein Wunder überstanden sie die Flucht von der Pommerschen Küste auf einem Flüchtlingsschiff nach Dänemark und kamen in ein Aufnahmelager nach Alborg. Als die couragierte Mutter mehr schlecht als recht mit dem Lagerleben zurechtkam, erwachte in ihr die Sorge um ihren Mann, und sie gab eine Suchanzeige beim Roten Kreuz
auf. Die Zeit verging ohne ein Lebenszeichen. In dieser für sie schwierigen Zeit lernte sie einen jungen Dänen kennen, der ihr in all dem Dunkel der Kriegswirren behilflich war. Eine Liebe, die Folgen hatte. Mit dem neugeborenen „Bruder“ lebten sie dann fast wie eine Familie zusammen. Dann erhielt die Mutter die überraschende Nachricht, daß ihr Mann aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt war und in einem Dorf in Thüringen lebte. Schweren Herzens beschrieb sie ihm ihre Situation. Doch ihr Mann bat sie in einem liebevollen Brief, zu ihm zu kommen. Im Juli 1947 stand die Mutter mit den fünf Kindern und voller Hoffnung vor ihrem Mann. Das Eingewöhnen in dem Dorf, in dem man den Flüchtlingen mit Skepsis und Mißtrauen gegenüberstand, aber auch die Entfremdung zwischen Mann und Frau belasteten die Familie. Durch die Kriegsgefangenschaft und die harte Feldarbeit im Dorf verschlechterte sich der Gesundheitszustand des Vaters derart, daß er starb. In diese unwirtliche Zeit wurde Marjellchen geboren. Das Kind war kaum lebensfähig. „Doch mit viel Liebe und Zuwendung gelang es meiner Mutter, mich am Leben zu erhalten. Als Mutters Nesthäkchen und auch von meinen Geschwistern verwöhnt, fühlte ich mich wohl und akzeptierte die Umgebung, in der ich aufwuchs, als gäbe es nichts anderes und besseres auf dieser Welt.“

Ingeborg Simon schreibt in dem Vorwort zu ihrem Buch: „Ich kann nicht erklären, warum es mich zum Schreiben drängt. Nur manchmal, bei geforderten Aufsätzen in der Schule oder später bei selbst ausgearbeiteten Reden sowie in Briefen und Gedichten, merkte ich, wie meine Ausdrucksform die Menschen aufhorchen ließ und sie innerlich berührte.“ Dies gelingt ihr am besten, wenn sie über ihre Mutter schreibt oder Episoden und kleine Anekdoten aus der Familie erzählt. Dann spürt der Leser ihre Freude am Schreiben. Ihre Erinnerungen oder Erlebnisse während ihrer Kindergarten-, Schul- und Jugendzeit gehen jedoch zu sehr ins Detail und ermüden den Leser. Derartige Erlebnisse haben zig Millionen Kinder in der Nachkriegszeit, in Ost oder in West, ähnlich erlebt. Barbara Mußfeldt

Ingeborg Simon: „Marjellchen“, Verlag Neue Literatur, Jena, Plauen, Quedlinburg, brosch., 180 Seiten, 14,90 Euro 5570
 
     
     
 
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