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Es gab eine Zeit, da schrieben deutsche Dichter Sätze wie diesen: "Kinder sind sichtbar gewordene Liebe." Es war Novalis, sein Satz ist zweihundert Jahre alt. Heute würde man eher schreiben: "Kinder sind sichtbar gewordene künftige Beitragszahler für die Sozialsysteme." Auf die Kombination von Kinder und Liebe kommt heute kaum einer mehr, und in den Berichten der Unicef oder des Deutschen Kinderhilfswerks, die vor einer Woche veröffentlicht und schon wieder vergessen sind, ist nur noch eine düstere Welt für Kinder zu sehen. Die Kindheit werde kürzer, stellt der Bielefelder Jugendforscher Hurrelmann fest, sie ende schon bei zehn Jahren, die Kinder fingen früher an zu rauchen, das Zuhause, die Bindung an die Eltern gehe früher verloren, die Brutalität steige, die Armut auch. Das unausgesprochen Dramatische an diesem Befund: Es geht nicht nur um die Kinder, es ist unser aller Zukunft, die sich verdüstert. Und die Politik zeigt sich zukunftsblind.
Natürlich melden sich an Tagen, da solche Berichte veröffentlicht werden, die Politiker landauf, landab mit hehren Parolen. Die Armut von Familien soll vermindert werden, sagt die zuständige Ministerin Renate Schmidt. Das ist ein richtiger Ansatz. Aber wenn dieselbe Regierung die Ökosteuer und Rentenbeitragssätze erhöht und die Eigenheimförderung kürzt - um nur einige jüngere antifamiliäre Maßnahmen zu nennen -, dann wird es zappenduster für die Familien und für das Verständnis einer Politik, die mit Lippenbekenntnissen zur Keimzelle der Gesellschaft hausieren geht. Wenn es so weitergeht, werden selbst die Ideologen in ihrer Partei demnächst nicht mehr viel Luftraum zu erobern haben. Die Kinderbetten werden rar.
Familie ist da, wo ein Kühlschrank steht, heißt ein geflügeltes Wort. Richtig daran ist die Temperatur, mit der man in der Politik Familie assoziiert. Wir haben kein kinderfeindliches Land, sondern ein familienfeindliches. Es gibt eine "strukturelle Rücksichtslosigkeit", wie der Familienforscher Kaufmann schon vor Jahren feststellte. Familien sind immer gestreßt, vielfach verarmt, oft belächelt. Deshalb bleiben die Kinderbetten leer und unsere Zukunftsaussichten kurz. Das wird sich erst ändern, wenn man den Familien Gerechtigkeit widerfahren läßt. Denn ihre - übrigens vom Bundesverfassungsgericht mehrfach anerkannte - Erziehungsleistung ist für die Gesellschaft unersetzlich. Sie schafft das Humanvermögen, ohne das auch die Wirtschaft nicht auskommt. Das kann keine Krippe und kein Kindergarten leisten.
Es sind diese Defizite, das Fehlen der familiären Erziehungsleistung und ihrer gerechten Honorierung, die sich in den jüngsten Berichten widerspiegeln. Die Kinder tragen die Folgen. Und die Gesellschaft auch. Dennoch bleibt alles still. Der Aufschrei erfolgt nicht. Die Familien- und Jugendforscher tragen mit belegter Stimme ihre Ergebnisse vor. Im nächsten Jahr wird es noch eine Drehung schlimmer sein, und dann werden die zuständigen Politiker wieder jammern und die eine oder andere Maßnahme fordern. Zum Beispiel wieder ein Familienwahlrecht, wohl wissend, daß es dafür im Moment keine Mehrheit im Bundestag gibt. Dieser Kanzler und auch die führenden Leute in der Koalition haben einfach keinen Sinn für Familie. Sie sind mit sich und ihrer Gegenwart beschäftigt. Die ist, zugegeben, schwierig genug. Aber die Schwierigkeiten sind hausgemacht. Wer mit der Gegenwart schon nicht fertig wird, von dem kann man schwerlich verlangen, sich um die Zukunft zu kümmern.
Aber auch in der Opposition bleibt der Aufschrei aus. Immerhin, die Zukunftsblindheit ist dort nicht so fortgeschritten, wie das Beispiel Türkei zeigt. Bayerns Ministerpräsident Stoiber spricht sich klar gegen eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU aus. Das würde Europa verändern. Schröder und Fischer dagegen wollen die Türkei in die EU hineinboxen. Sie glauben, Washington damit gefällig zu sein. Man darf sich übrigens fragen, mit welchem Recht Washington sich in diese Frage einmischt. Die Europäer verlangen ja auch nicht, daß Mexiko endlich der 52. US-Bundesstaat werde, damit die Demokratie in Mexiko stabilisiert, das Bildungssystem ausgebaut und die Wirtschaft in dem wichtigen lateinamerikanischen Land zum Nutzen aller in Schwung komme. Washington würde sich all das mit Recht verbieten. Es geht um die Zukunft der USA, würde man argumentieren. Und man würde wohl auch die Demographie als Argument heranziehen. Schon heute stellen die Hispanos die größte Minderheit in den Vereinigten Staaten. Das Bevölkerungswachstum in Mexiko übertrifft noch das in den USA. Ungleich schneller wächst die Bevölkerung der Türkei. Ihre Integration in die EU würde in wenigen Jahrzehnten die Gewichte völlig verschieben.
Dennoch haben die Politiker in Kopenhagen beschlossen, bis Ende 2004 der Regierung in Ankara eine Antwort zu geben, und die meisten verstehen darunter auch einen Termin für Beitrittsverhandlungen. Es wäre das Ende der EU. Aber soweit denken nur wenige. Die Zukunftsblindheit der Europäer ist schon erstaunlich. Sie betrifft vor allem die Bereiche, die mit Familie, Kindern, Kultur, Religion und Demographie zu tun haben. Es sind Bereiche des menschlichen Verhaltens, der Gefühle, der Liebe und des Geistes.
Sind die Europäer, insbesondere die Deutschen, geistig schon so entkernt, daß der kalte Stachel des Todes nicht mehr schmerzt? Die erneut demonstrierte Zukunftsblindheit legt das nahe. Ein Beweis ist es nicht. Moralisch und geistig erschöpfte Nationen können, wie die Geschichte gezeigt hat, regenerieren. Das ist eine Frage der Führung und der Kraft, die sie auf den programmatisch-geistigen Feldern der Zukunft entfaltet. Sozialsysteme haben mit Beitragszahlern zu tun, Zukunft mit Hoffnun |
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