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Nun freut sie sich doch, daß sie sich aufgerafft hat. Sonntags ist nicht gerade ihr Tag. Wie viele alte Leute ist Hilde immer froh, wenn er vorüber ist. Woran das wohl liegen mag? Heute aber ist alles anders. Das Wetter ist wunderbar mild, kaum ein Windchen weht. Kein Wunder, daß so viel Volk unterwegs ist. Alle pilgern in die gleiche Richtung, nachdem das Auto am Straßenrand abgestellt ist. Wohin die wohl gehen?
Da fällt ihr ein, es ist ja Sonntag! Natürlich, die Menschen gehen alle zur Kirche. Das ist doch nochmal was, denkt sie. Wie schön, daß auf dem Lande noch der sonntägliche Kirchgang gepflegt wird. Beruhigend. Aber wo ist denn die Kirche, der Glocke nturm? Nichts zu sehen, nichts zu hören.
Als sie mit ihrem Rad um die Kurve steuert, sieht sie schließlich den angestrebten "Tempel", der seine Pforten geöffnet hat. Der Parkplatz ist brechend voll. Limousine steht an Limousine, deshalb die an der Straße abgestellten Autos. Hier wird kein Gottesdienst zelebriert werden, sieht sie. Auf einem Aushang ist zu lesen, daß man in diesem Gourmet-Tempel frühstücken kann. Das heißt heute "Brunchen". "Pro Person 18,50 Euro. Kinder bis zehn die Hälfte, all inclusive." Sicherlich ist damit Kaffee oder Tee gemeint, überlegt Hilde.
In rascher Fahrt überholt sie ein Taxi, das seine XXL-Gäste vor der Tür entläßt. Eine gewichtige Familie wird da mit fünf Personen frühstücken. Das sind ... umgerechnet ... Hilde! Laß das! Und sie hatte sich gestern noch überlegt, ob sie sich den "Spaziergang nach Syrakus" leisten sollte. Schon zu Beginn - der Dichter ist in Triest angekommen - berichtet Seume seinem Freund, daß er vor dem Frühstück erstmal ein großes Stück wandern muß. Mit vollem Magen wäre er wohl nicht weit gekommen. Immerhin schaffte er es von Leipzig bis nach Sizilien. Syrakus eben.
Während sie weiterfährt, bringt ihr das Langzeitgedächtnis das Frühstück zu Hause in den Sinn: das vor die Brust gehaltene Brot, von dem Mutter die Kluften schnitt. Bloß nicht solche Fitzelchen. Dann mit dem Messer in den Steintopf mit Schmalz und aufgeschmiert. Bei Metachen kam der Topf gar nicht erst vom Tisch, und bei sechs Geschwistern fiel es gar nicht auf, wenn für die Freundin mitgeschmiert wurde. "All inclusive!" Ob den "Brunchern" das Brot auch so gut schmecken wird?
Wir haben uns doch sehr verändert, denkt Hilde, während sie weiterfährt.
Wie kommt das nur, daß dem Essen heute solch eine Bedeutung beigemessen wird? Damals gab es Regeln: Man sprach nicht von Geld und auch nicht vom Essen, schon gar nicht bei Tisch.
Vielleicht weil es kein Geld gab? Und was sollte man schon über die Hausmannskost sagen, die Mutter "kreierte"?
Probleme mit der Figur hatte keiner. Wenn man von dem kleinen Kartoffelbauch absah, waren alle rank und schlank, XXL unbekannt.
Heute muß man gewaltig aufpassen, damit einem kein X für ein U vorgemacht wird.
Na, Hildchen, gib Ruhe, fahr nach Hause und lies, wie Seume in Italien vor 20 |
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