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Schwenkitten 1945

 
     
 
Alles ging so schnell - wie ein nächtlicher Dolchstoß. Nichts, gar nichts konnte Toplew tun! Nur fliehen? Nach Klein Schwenkitten rennen, zum Stabswagen und ihn anzünden. Und er rannte los. Und er hörte die Einschläge hinter sich, ziemlich nah, durchschnitten von Schreien. Unsere? Ihre? Man konnte unterscheiden: Karabiner, das waren unsere.

Am Stabswagen warteten schon ein Planzeichner und ein Funker. Sie verschütteten im Fahrerhäuschen Benzin
, warfen brennendes Werg hinein. Die Flammen schlugen nach vier Seiten. Lauf weg! Lauf weg!

Unsere Karten werdet ihr nicht zu sehen bekommen. Und in unseren Dokumenten werdet ihr nicht herumkramen!

Das Werferfeuer auf die Batterie hatte aufgehört. Jemand hat jemanden erledigt. Sie rannten hierher, zum Brand, Kugeln pfiffen, das Ziel ist sichtbar. Auch Toplew rannte mit seinen Stabssoldaten, rannte. Er kannte nur die Richtung, den Sinn kannte er nicht mehr. Noch einer von der Batterie lief mit ihm.

Toplew hatte plötzlich alles vor Augen: Kindheit, Schule, ganz intensiv und alles auf einmal.

Der Soldat holte auf, um neben dem Hauptmann zu laufen. Beide waren außer Atem, konnten nicht sprechen. Es war auch ohnehin klar: Durch den Rückzug über die Straße, auf die Brücke, war die 6. Batterie gerettet worden. Gerade ein Kilometer.

Sie blieben stehen, sahen sich um, über den Bäumen loderten die Flammen des brennenden Stabswagens. Der Abteilungskommandeur hatte gesagt: Mit ihm ziehen wir in Deutschland ein.

Und wo die Kanonen geblieben sind - dort nur die letzten MG-Schüsse.

*

Kandalinzew und Gussew konnten später nur zusammen, einander einhelfend, sich erinnern und doch nicht genau erinnern, was geschehen war. Was wonach wem passierte. Und welche Kanone den ersten Panzer getroffen hatte und den dritten und weshalb der Schützenpanzer brannte.

Bis sechs Uhr morgens konnte man nicht gezielt schießen. Voraus, auf dem jenseitigen Ufer der Passarge, knatterte MG-Feuer. Und die ganze Zeit über entkamen immer wieder eigene Leute der Einkesselung. Es hieß ja, es gebe dort keine Einheiten von uns, und doch: Wie viele wurden in der Schneedunkelheit dahingerafft.

Aber später, links auf der Straße von Dittrichsdorf her blinkten die Scheinwerfer der Panzer und Schützenpanzer. Die Deutschen kamen. Manchmal ein kurzes Aufleuchten der Scheinwerfer, sie konnten es nicht lassen. Eine motorisierte Kolonne rückte an. Immer deutlicher wurde ihr Motorenlärm zwischen den letzten MG-Salven.

Und da ist sie: die erste Schnauze! Zeit zuzuschlagen.

"Geschütz zum Gefecht!", kam es über die Chaussee rechts von Kandalinzew.

"In direkten Beschuß!", schrie Oleg seiner Geschützbedienung zu. "Feuer!"

Petja Nikolajew richtete. Das Geschütz brüllte auf, auch Kolzows Geschütz brüllte. Und Oleg half der Geschützbedienung mit dem nächsten Geschoß. Jetzt kam alles auf Schnelligkeit an. Von hier aus hatte der Deutsche kein Feuer erwartet. Er begann, zur Seite auszuweichen. Aber wir trafen nicht daneben. Eine Funkenfontäne vom Panzer! Das bedeutete Splittersprengladung. Der Panzer blieb stehen. Hinter ihm brannte etwas. Wahrscheinlich ein Schützenpanzer.

Auf der Straße wälzte sich die Kolonne näher. Wir schossen zweimal in der Minute. Und unser Geschoß flog dem "Königstiger" geradewegs in die Schnauze.

So hatten wir Erfolg - grade vor der Brücke und auf der Brücke brachten wir die Panzer zur Strecke und verstopften die Brücke. Ein Wunder, daß die Brücke hielt.

Die deutschen Panzer schossen hierher, doch weil unser Ufer viel höher lag, prallten ihre Geschosse ab und flogen hoch. Unsere Geschützbedienung ließ sich in Deckungslöcher fallen, sprang gleich wieder auf und lud neu. Nikolajew und Kolzow wichen nicht vom Geschütz - und blieben unverwundet. ... Wenn man nicht an sich denkt, an nichts und niemanden und nur: Drauf los! Drauf los!

Die Deutschen schossen teils mit Sprenggranaten, teils mit Vollgeschossen wie schon seit dem Herbst. Munitionsmangel?

Bei den Vollgeschossen gibt es keine Splitterverletzungen, nur direkte Treffer. Es traf den geschäftigen Jursch und zwei Männer von Kolzows Geschützbedienung. Und Nikolajews Geschütz wurde von einem Hartkerngeschoß leicht beschädigt.

So war es, erinnerten sich später alle. Aber was genau, in welcher Reihenfolge und von wem, daraus ist niemand klug geworden.

Danach passierte Verschiedenes. Es kam - wer weiß woher - unser Schützenzug und bezog am Ufer Stellung. Die Brücke unter Beschuß. Zwischen den geknackten Panzern versuchten einzelne Deutsche, hierher zu kommen, und wurden erschossen.

Über das Eis, am Steilhang im Schnee einsinkend, konnten sie das hohe Ufer der Passarge nicht einnehmen. Und auch wir konnten auf die motorisierte Kolonne am anderen Ufer nicht einhauen, die Munition war verbraucht.

Da kam plötzlich über die frei gebliebene Straße hinter uns unser Panzer mit der eckigen Nase, der IS, eine Neuheit, stärkste Panzerung, ihn mit Artillerie zu beschießen ist sinnlos. Er rollte zwischen unsere Kanonen und feuerte drei Warnschüsse auf die motorisierte Kolonne und zwei auf den Weg nach Schwenkitten. Von dort - keine Erwiderung.

Die Deutschen brachten ihre Fahrzeuge in den Wald. Und von rückwärts kamen noch zwei IS. Was für eine Erleichterung!

Und später dann - flußauf und flußab, über das Eis, den verschneiten Hang hinauf kraxelten die Unseren aus dem Kessel heraus. Unter ihnen auch Batterieführer Kassjanow mit verletztem Arm. Und die Artilleristen der eroberten 4. und 5. Batterie flohen, soweit sie es noch konnten, es waren nicht viele.

Und Hauptmann Toplew war unversehrt geblieben. Während man von Bojew, dem Kommandeur der Abteilung, nur sagen konnte: Er wurde eingekesselt. Als sei das nicht tödlich.

Oleg Gussew konnte es nicht glauben, als er auf die Uhr sah: Wo sind die drei Stunden geblieben? Wie haben sie sich zusammengepreßt, sind vorbeigesprungen, im Kampf verschwunden. Es wurde schon Tag.

*

Die Küche gab Essen aus, für alle, die vor Ort waren. Hauptmann Toplew empfand Scham und Verlegenheit gegenüber den Zugführern. Doch was hätte er denn besser machen können? Immer wieder, er konnte nicht anders, erzählte er Kassjanow, wie es gewesen war, wie unverhofft sie angeschlichen kamen und die Kanonen einfach nicht zu retten gewesen waren ... Und Hauptmann Kassjanow fühlte sich schuldlos schuldig.

Ein Stündchen später kamen von Liebstadt her zwei Pkws. Im vorderen, einem Beutewagen - Opel Blitz -, saßen der Stellvertretende Chef des Brigadestabes, ein Major, der Chef der Aufklärerbrigade, ein Major, und noch einige Niederrangige aus dem Brigadestab. Sie hatten es nicht glauben können: In diesen wenigen Stunden? Nach dem gestrigen ruhigen Abend? Und so was konnte passieren? Aufgeregt hatten sie zum Brigadestab gefunkt.

Aus dem zweiten Wagen stiegen der Sampolit der 2. Abteilung, Konoptschuk, und der Partorg Gubajdulin, ausgeschlafen und nüchtern. Und Major Tarassow vom Smersch. Sie sammelten sich um die Offiziere: Wie und was ist vorgefallen? Sie mißbilligten, putzten Toplew und Kassjanow herunter: Wie haben Sie bloß so handeln können?

Tarassow rügte streng: "Der Begriff ,Unvorhersehbarkeit darf gar nicht existieren. Wir müssen immer mit allem ..."

Der abgequälte Toplew sagte entgegen aller Vernunft: "Aber wir wußten es doch, hatten eine Information."

"Ja? Was für eine?"

Toplew berichtete von dem Überläufer. Tarassow kapierte blitzschnell: "Wo ist er?" Man führte ihn hin, zum Herrenhaus.

Die übrigen Besucher schauten sich um und begriffen: Oha, hier riecht es auch jetzt noch nach Pulver. Also abfahren.

Und der Brigadestab hatte schon von ganz oben von dem schweren nächtlichen Überfall der Deutschen im Norden und dem auf unsere Stellungen hier ausgeweiteten erfahren: Die 3. Abteilung vollständig eingekesselt. Befehl: Alle Unverletzten ziehen sich sofort über Liebstadt nach Herzogswalde zurück.

Der Überläufer wurde zu Tarassow gebracht. Trotz der nächtlichen Aufregungen hatte er wohl etwas geschlafen. Er versuchte zu lächeln. Friedfertig. Beunruhigt. Erwartungsvoll.

"Komm!", befahl Tarassow mit schroffer Handbewegung. Er führte ihn hinter die Scheune. Er ging hinter ihm her, nahm im Gehen seine TT aus der Revolvertasche.

Hinter der Scheune - zwei Schüsse. Sie waren leise im Vergleich zu der lautstarken Nacht.

Epilog

Am Abend des 25. Januar, als die ersten sowjetischen Panzer zur Ostsee ans Frische Haff vorgestoßen waren und Ostdeutschland von Deutschland abgeschnitten wurde, war ein deutscher Gegenangriff auf den Durchbruch innerhalb von 24 Stunden vorbereitet worden, und zwar schon für den nächsten Abend. Ihre Panzerdivision, zwei Infanterie- und eine Jägerbrigade begannen den Angriff in Richtung Westen, auf Elbing. In der Nacht vom 26. auf den 27. schlossen sich diesen Truppen noch drei Infanteriedivisionen und Teile des Panzerkorps "Großdeutschland" an. An der linken Flanke nahmen sie Wormditt und Liebstadt ein.

Bei der 100 Kilometer langen Ausdehnung des Keils zum Meer konnten unsere Schützendivisionen keine lückenlose Frontlinie bilden. Von drei Divisionen war eine eingekesselt. Aber bis Elbing gelangten die Deutschen nicht mehr, unsere 5. Gardepanzerarmee ließ sie nicht durch, erst nach vier Tagen erreichten sie das Territorium von Mühlhausen bis Liebstadt. Im Süden hielten sie unsere Panzerbrigade und das von Allenstein kommende Kavalleriekorps auf. Vom Schnee begünstigt, erwies sich die Reiterei ein letztes Mal als nützlich.

Am 2. Februar hatten wir Liebstadt zurückerobert, östlich davon zog auch die Aufklärung der Artillerieabteilung in Schwenkitten ein. Die Kanonen der beiden vernichteten Batterien standen in ihrer früheren Stellung am Dorfrand. Alle Verschlüsse, teilweise auch die Rohre, waren mit TNT-Sprengkörpern unbrauchbar gemacht worden. Zwischen den Kanonen und weiter auf dem Weg nach Schwenkitten lagen die Leichen der Kanoniere, mehrere Dutzend. Ein paar Deutsche hatten manchen mit Messern den Gnadenstoß gegeben, wollten Munition sparen.

Man begann, nach Bojew und seinen Batterieführern zu suchen, und fand sie: Mehrere Soldaten und Batterieführer Mjagkow lagen tot in Bojews Nähe. Er selbst war in die Nasenwurzel und in den Kiefer getroffen, lag auf dem Rücken. Den Halbpelz und die Filzstiefel hatte man ihm ausgezogen, auch die Mütze war ihm gestohlen worden. Ein Deutscher war begierig nach den Orden gewesen, um seinen Erfolg zu vermelden: Er hatte mit einem Messer rundum aus der Feldbluse sämtliche Orden herausgeschnitten. Auf der Brust des Toten waren die blutigen Messerspuren geronnen.

In Liebstadt wurde Bojew beerdigt, auf dem Platz mit dem Hindenburg-Denkmal.

Einen Tag vorher hatte das Artillerie-Brigadekommando in den Armeestab eine Liste zur Auszeichnung mit den Rotbannerorden als Auszeichnung für die Operation am 27. Januar eingereicht. Die Auszeichnungsliste führten an: Sampolit Wyshlewskij, Brigadestabschef Weressowoj und der Chef der Brigadeaufklärung; viel weiter unten fanden sich Toplew, Kandalinzew und Gussew sowie der Führer der Schallmeßbatterie.

Der Kommandeur der Artillerieeinheit war ein großer, magerer, strenger Generalleutnant. Ihm war klar bewußt, daß er voreilig gehandelt hatte, als er die schwere Geschützbrigade ohne jeden Schutz bei unklarer Lage hatte vorrücken lassen. Jetzt wurde er aber erst recht zornig. Mit einem fetten schwarzen Kreuz strich er die gesamte Brigadeführung an der Spitze der Auszeichnungsliste durch und fügte eine unflätige Bemerkung hinzu.

Viele Tage später, schon im März, wurde Major Bojew der Orden "Vaterländischer Krieg erster Klasse" verliehen. Diesem Ansuchen war entsprochen worden. Nur hat diesen Orden, in Gold, niemals jemand zu sehen bekommen, auch die Schwester Praskowja hat ihn nicht erhalten.

Fügte er denn dem, was mit dem Messer herausgeschnitten war, noch viel hinzu?

Auch der Kommandeur der Schützendivision erwähnte in seinen Memoiren aus der Nachkriegszeit den Regimentskommandeur für einen Tag, Balujew, nicht. Verschollen, als hätte es ihn nie gegeben.

 

Alexander Solschenizyn: Der Autor berichtet in seiner Erzählung "Schwenkitten 45" erstmals über seine Kriegserfahrungen. Dies ist nun der IX und letzte Teil der bei Langen-Müller erschienenen Veröffentlichung, die seit Folge 46 in der Freiheits-Depesche abgedruckt wird.
 
     
     
 
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