Sechs Lorbasse mit Herz

Obwohl meine Jugend weit zurückliegt, pflege ich bis heute die eine und die andere Gewohnheit, die ich mir aus jener Zeit erhalten habe. Dazu gehört auch ein alljährlicher Besuch auf dem Rummel jener Stadt, in der ich die bedeutendsten Jahre meiner Jugendzeit verbrachte. Ich werte dabei auch, daß hier, wie einst in meiner Geburtsstadt Tilsit, dieses Vergnügen nur einmal im Jahr geboten wird.

Hingegen stehe ich bei diesen Besuchen hier und da vor Karussells mit Vergangenheitscharakter und vor Buden und Ständen, die es so oder ähnlich damals auch schon gab. Und die Erinnerungen schließen ein, daß es in jener Zeit mehr ein Schauen als ein Sich-leisten-Können war, was das Jahrmarktsvergnügen ausmachte.

Was ich nun in diesem Jahr auf jenem Rummel erlebte, ließ mich zunächst auf ähnliches schließen. Ich hatte mich vor einem Eisstand in einer Schlange hinter sechs etwa neunjährigen Jungen eingereiht, von denen der erste gerade bedient wurde, sich hinsichtlich der Sorte aber etwas unentschlossen zeigte. Es würde etwas dauern, bis ich dran kam, dachte ich. Doch ich irrte. Als der kleine Käufer sein Eis hatte, entfernten

sich mit ihm auch die anderen fünf. Besaßen diese kein Geld für ein Eis, oder hatten sie alles ausgegeben? Gemütlich schlendernd zog ich schließlich mit meinem Eis davon. Zufällig ging ich in dieselbe Richtung, die die sechs Steppkes auch eingeschlagen hatten. Und mehr zufällig sah ich auch, daß sie wieder hintereinander eine Schlange bildend vor einem Eisverkaufswagen standen. Gespannt beobachtete ich aus einiger Entfernung, was jetzt ge- schehen würde. Erstaunt stellte ich fest, daß sich wieder nur einer der Jungen ein Eis kaufte und sich mit ihm auch hier alle anderen gleichzeitig entfernten. Verschmitzt lächelnd zogen sie weiter.

Die Sache begann mir Spaß zu machen. Unauffällig folgte ich den Bowkes. Auch ein drittes und ein viertes Mal reihten sie sich wieder hintereinander vor einem Eisstand ein. Jetzt näherte ich mich ihnen.

Der letzte in der Reihe lächelte leicht verlegen; er schien mich wiederzuerkennen. Ich ergriff das Wort: "Sagt mal, ihr kleinen Lorbasse, was treibt ihr da für ein Spielchen. Sechs stehen an, und nur einer kauft sich Eis, und das immer wieder. Wer hat euch das beigebracht?"

Ein kleiner Blondschopf gab mir mit breitem Grinsen die Antwort. "Das haben wir uns so ausgedacht. Die Leute freuen sich doch alle, wenn sie anstehen und denken, es sind noch sechs vor ihnen dran, dabei sind, schwupp, alle weg, und sie sind an der Reihe. Das ist jedesmal so!" Ich schüttelte halb beeindruckt und halb verständnislos den Kopf und ließ meine Hand sacht über die dichte Mähne des kleinen Blondschopfs gleiten. "Ihr kleinen Bowkes!" murmelte ich dabei.

Der Junge horchte auf, sah mich jetzt mit leicht schräg gestelltem Kopf prüfend an und fragte dann: "Sind Sie aus Ostdeutschland?" Ich dachte, ich höre nicht richtig. "Ja, das bin ich, aber wie kommst du darauf? Wir kennen uns doch gar nicht", sagte ich verblüfft.

"Ach, ich dachte mir das so, weil ... weil mein Uropa mich auch oft Lorbaß oder Bowke nennt. Und der ist aus Ostdeutschland!" Jetzt fuhr ich dem Kleinen nahezu vertraut mit gespreizten Fingern durch das Blondhaar und sagte: "Na, dann grüß deinen Urgroßvater mal schön, mein Jungchen. Grüß ihn von einer Ostpreußin, die du auf dem Jahrmarkt trafst! Bestell ihm das bitte genau so, ja!" - "Mach ich!" strahlte der Kleine. Seltsam berührt trennte ich mich von der kleinen Bande. Ich drehte mich im Weitergehen noch einmal um und sah, daß sie in entgegengesetzte Richtung gingen. Ganz sicher auf der Suche nach dem nächsten Eisverkaufsstand, denn zwei von ihnen hatten bisher ja noch kein Ei