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Als der alte, blaue Lastkraftwagen mit der gelben Plane und dem Signet der Arbeitsgemeinschaft der Memellandkreise e.V. auf der Fahrerkabine das Kirchengelände fährt, stehen schon zahlreiche ältere Leute mit erwartungsvollen Blicken am Garagentor des renovierten Diakoniehauses. Die hellgelb gestrichene Kirche mit dem Diakoniehaus wirkt inmitten des Dorfes Pogegen wie ein heller Farbtupfer im Einheitsgrau. Die Gebäude drum herum haben schon seit Jahrzehnten weder Farbe noch neue Fenster oder Türen gesehen, so daß das gepflegte Kirchengelände den Eindruck einer Insel des Wohlstandes macht.
Neugierig recken die anwesenden Bewohner des Ortes die Hälse als Martin und Hans Pusche den hinteren Teil der Plane hochschlagen. Jeder will wissen, was die beiden Männer aus der Nähe von Mannheim dieses Mal mitgebracht haben. Doch zu ihrer Enttäuschung können sie nicht sofort die für sie wertvolle Fracht ausmachen. Dafür müssen sie schon näher an den Pritschenwagen herantreten, da schon am Vortage gut die Hälfte der Hilfsgüter im Diakoniezentrum Sandora mitten in der Memeler Altstadt abgeladen worden war.
Dort waren die beiden Brüder Pusche jedoch nicht von den Empfängern der Güter begrüßt worden, sondern von den Mitarbeitern des Zentrums. Was nicht schon namentlich gekennzeichnet gewesen war, wie es beispielsweise bei dem Rollstuhl, dem braunen Fahrrad und den Sanitäreinrichtungen der Fall gewesen war, wurde in das Büro der Leiterin Magdalena Piklaps gebracht, wo es tags darauf von acht Frauen vorsortiert werden sollte. Kiste um Kiste wurde in das Gebäude getragen, während aus der Küche der Duft des Essens für die Obdachlosenspeisung in die Flure drang. Eine der Mitarbeiterinnen beendete dann auch vorzeitig für sich das Ausladen, da die ersten der zehn zur Nachmittagsbetreuung erwarteten Kinder aus der Schule kamen. Alle anderen luden fleißig weiter mit aus.
Trotzdem erspähen die wartenden Menschen in Pogegen noch immer genügend Dinge auf der Ladefläche des VW-MAN, die ihre Begehrlichkeit wecken. Während zwei kräftige Männer mittleren Alters den beiden Pusches beim Abladen helfen, beobachten vor allem drei ältere Damen mit Kopftüchern aufmerksam, was abgeladen wird. Zwei von ihnen haben sichtliches Interesse an einem gerade zum Vorschein kommenden Teppich, doch noch müssen sie sich gedulden. Die dritte von ihnen weiß hingegen schon, daß die zuvor erspähten Krücken für sie vorgesehen sind. Mit ihren 74 Jahren hat Edith, die seit 1945 aber litauisch Edita genannt wird, eine leichte Gehbehinderung .
Es fängt zu regnen an, und die Diakonieleiterin von Pogegen lädt herzlich zum Kaffee ein. Mit den Worten "coffee, coffee" lockt sie die beiden deutschen Fahrer auf englisch ins Diakoniehaus. Der 64jährige Hans und der 66jährige Martin folgen ihr gerne, zumal sie hier alles abgeladen haben, später aber noch weiter müssen, um drei Familien die gewünschten Möbelstücke vorbeizubringen. Während die beiden Männer bewirtet werden, ist Edith ganz erfreut mit jemanden auf deutsch reden zu können. Sie ist genau wie die beiden Pusches Memelländerin, doch nutzte sie nicht wie diese 1960 die Chance, als Spätaussiedler in die Bundesrepublik auszureisen, denn sie hatte inzwischen Mann und Kind. Heute wohnt sie in einem kleinen Zimmer und dankt Gott dafür, daß er es so gut mit ihr gemeint hat. "Nur in der Not erkennt der Mensch Gott", sagt sie weise, verhakt ihre Finger ineinander und dankt den Deutschen, die immer so nett zu ihr sind und ihr notwendige Dinge bringen, die sie sich nicht leisten kann. Sie ist übrigens die einzige unter den Dorfbewohnern, die im Diakoniehaus sitzt. Alle anderen versuchen, etwas von den Hilfsgütern für sich zu ergattern. Edith hingegen freut sich bescheiden über ihre Krücken und lächelt dankerfüllt. Dann beginnt sie von ihrem Sohn, dessen Frau und ihrem "Enkelchen" zu erzählen, die wie alle jungen Leute in Vilnius leben. Auf dem Dorf bleibt keiner lange.
Dies hatte sich schon auf der Hinfahrt gezeigt. Ganz vereinzelt stehen entlang der Straße mal ein oder zwei Häuser, die dem Verfall preisgegeben sind. In den meisten von ihnen wohnen nur noch alte Menschen, die einsam manchmal Kilometer zum nächsten Nachbarn laufen müssen. Die Felder längs der Straße liegen fast alle brach, nur hin und wieder steht auf den Wiesen mal eine angebundene Kuh.
In dieser mehr als tristen Gegend haben junge Leute keine Perspektive. Die 20 Kinder, die in ihrer Mittagspause von der gegenüber gelegenen Schule zum Essen ins Diakoniehaus kommen, machen alle einen ordentlichen, gepflegten Eindruck, aber das sind jene Kinder, um die sich gekümmert wird. Edith berichtet von mehreren Jungen, die aus Langeweile eine widerwärtige Wette abgeschlossen hatten. Der Gewinner erhielt drei Flaschen Bier dafür, daß er ein Glas Wodka mit Katzenblut vermischt trank.
Nachdem Martin und Hans Pusche sich gestärkt haben, geht die Fahrt weiter Richtung Prokuls. Fünf Kilometer vorher biegt der kleine blaue Laster in einen Weg ein, fährt vorbei an einem ungepflegten litauischen Bauernhof, um dann vor einem niedlichen, frisch gestrichenen Häuschen stehen zu bleiben. Der Rasen ist frisch gemäht, das Blumenbeet, das erste seiner Art seit dem Überschreiten der litauischen Grenze, von Unkraut befreit. Alles ist zwar nach bundesdeutschem Standard ärmlich, aber sauber. Aus dem Haus tritt ein Ehepaar in den 60ern. Er ist Deutscher und ein Verwandter der Pusches, sie ist Litauerin. Man begrüßt sich herzlich, erzählt von den Kindern, den Erlebnissen der letzten Wochen und lädt dann nach einem Begrüßungsumtrunk die mitgebrachten Eichenstühle aus. Sie stammen von einer Wohnungsauflösung und sind gut erhalten. Voller Besitzerstolz streicht die Hausherrin über den olivgrünen Samt der Sitzflächen, während ihr ihr aristokratisch dreinblickender Kater um die Beine streift.
In Prokuls besuchen die beiden Pusches eine 64jährige Litauerin. Die ehemalige Krankenschwester ist schwer herzkrank und kann sich von ihrer schmalen Rente kaum etwas leisten. Ihre etwa 150 Euro Rente reichen gerade für Lebensmittel und die notwendigen Medikamente. Für größere Anschaffungen ist dementsprechend kein Geld da, doch ihr Sofa ist so kaputt, daß durch den abgewetzten Stoff die Federn herausschauen. Da Martin Pusche seit März 1993 gut alle zwei Monate mit dem kleinen Lastwagen in der Region ist - in den anderen Monaten fahren die schon über 70jährigen Walter Kruckis und Ernst Schön -, kennt er die Menschen und ihre Nöte dort sehr gut. Diesmal hat er auch ein neues Sofa dabei, bei dessen Anblick die 64jährige Litauerin vor Freude in Tränen ausbricht. Sie kann ihr Glück nicht fassen, will sich aber auch nichts schenken lassen. Immer wieder versucht sie den beiden Pusches 100 Litas (rund 30 Euro) aufzudrängen, doch die wehren ab. Das wirklich schöne Sofa haben sie ebenfalls bei einer Wohnungsauflösung zum Schnäppchen- preis von 50 Euro erstanden.
Doch nicht alle Leute sind so rührend wie die ehemalige Krankenschwester. Es gibt durchaus einige, die frech ihre Bestellungen aufgeben und auch Sonderwünsche anmelden, doch die sind in der Minderheit. Was die beiden Brüder allerdings jedesmal aufs neue verwundert, ist der Dreck bei manchen. Als sie am Vortage bei einer litauischen Familie Möbel ablieferten, wurde ihnen Kaffee angeboten, den sie aber dankend ablehnten, nachdem sie die klebrige Küche, den Staub in den Ecken und die vielen Schmutzflecken in der Wohnung ausgemacht hatten. "Armut hindert einen doch nicht am Saubermachen", kann Hans Pusche nur kopfschüttelnd dazu sagen.
Der alte, blaue Lastkraftwagen mit der gelben Plane und dem Signet der Arbeitsgemeinschaft der Memellandkreise e.V. ist aber nicht der einzige, der Hilfsgüter ins Land bringt. In diesem Jahr hat der Vorsitzende der Memellandkreise, Uwe Jurgsties, schon drei Sattelschlepper zusätzlich gemietet. Einer davon war mit 40 Krankenbetten für ein Altersheim in Memel beladen. Die meisten der Hilfsgüter sind zwar Sachspenden, doch betragen allein die Transportkosten mit Benzin, Überfahrt mit der Fähre und ähnlichem 16.000 Euro im Jahr. Diese werden wiederum durch Spenden unter Beteiligung der Hilfsaktion e.V. der Freundeskreis Ostdeutschland finanziert. Die Fahrer bekommen für ihre Mühe allenfalls den Dank der Spendenempfänger, doch der ist es ihnen immer wieder aufs neue wert, Hilfsgüter zu sammeln und alle zwei Monate in einer anstrengenden Fahrt an ihren Bestimmungsort zu bringen. Martin Pusche weiß schon mit absoluter Sicherheit, daß er im November den nächsten Transport in seine Heimat bringt, um den Menschen dort ihr durch Armut geprägtes Leben leichter zu machen und vielleicht ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern. Fritz Hegelmann
Diakoniehaus in Pogegen: Im Hintergrund der VW-MAN der Helfer aus der Bundesrepublik
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