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Sehr kurzlebig

 
     
 
Sie kennen das sicher auch. Kaum neigt sich das Jahr dem Ende zu, sind sie in aller Munde: die guten Vorsätze. Im nächsten Jahr höre ich bestimmt auf zu rauchen, ich werde mich nur noch gesund ernähren und mindestens fünf Kilo abnehmen. Ich werde versuchen, ordentlicher zu sein und nicht mehr hinter dem Rücken meiner Nachbarin über sie herziehen. So oder ähnlich werden alle Jahre wieder die besten Vorsätze gefaßt, von denen leider schon in der Silvesternacht, beim Knallen der Sektkorken, die meisten guten Wünsche bereits vergessen sind. Gute Vorsätze sind leider sehr kurzlebig. Sie haben nur den Vorteil, daß sie jederzeit wieder neu gefaßt werden können. Und so veranstalt
ete auch ich jedes Jahr die gleiche Übung. Wild entschlossen kaufte ich mir einen schicken Jogginganzug und grüßte Frau Müller freundlich, als ich ihr im Treppenhaus begegnete. Am Abend des 2. Januar sah meine Wohnung aus, wie aus einem Möbelkatalog. Jedes Teil stand ordentlich an seinem Platz. Ich war sehr stolz, und zog mich für einen ausgedehnten Waldlauf um. Völlig außer Atem, mit nassen Haaren und lehmverschmierten Schuhen kam ich zwei Stunden später in meine Musterwohnung zurück. Auf dem Weg ins Bad steckte ich mir einen Schokoriegel in den Mund. Ich hatte zwar auch frisches Gemüse und Obst in Mengen eingekauft, aber ich brauchte jetzt unbedingt Schokolade. Morgen würde ich mir dann einen richtig gesunden Salat machen. Die schmutzigen Turnschuhe stellte ich erst einmal in die Badewanne und der Jogginganzug landete auf dem Fußboden. Nachdem ich ausgiebig geduscht hatte, holte ich mir den zweiten Schokoriegel, stellte den Fernseher an und machte es mir in meinem Lieblingssessel bequem. Noch war die Welt für mich in Ordnung. Mein schlechtes Gewissen meldete sich erst, als ich später mit meiner Schwester Angelika telefonierte und ihr ausgiebig erzählte, daß ich morgens im Supermarkt Frau Müller mit einer Sechserpackung Kondome erwischt hatte. „Die arme Frau Müller bekam einen hochroten Kopf, und ich sah ihr grinsend nach, während ich zur Kasse ging.“ Angelika fand die Situation gar nicht so lustig, aber sie kannte ja auch Frau Müller nicht. Immerhin meldete sich nach diesem Gespräch mein schlechtes Gewissen bei mir. Warum sollte sich Frau Müller nicht einen schönen Abend machen, dachte ich und schob mit dem Fuß den Jogginganzug zur Seite, der immer noch im Bad auf den Fliesen lag. Ich konnte es einfach nicht lassen. Was hatte ich mir vorgenommen? Ärgerlich öffnete ich die Keksdose. Ich werde mir erst einen Kaffee kochen und dann die Turnschuhe säubern, dachte ich, während ich in die Küche ging. Mein Blick fiel auf den Obstkorb. Die Bananen mußten bald gegessen werden, sie bekamen schon braune Stellen. Ich schob mir noch einen Keks in den Mund und stellte die Kaffeemaschine an. Die Turnschuhe in der Badewanne und den lehmverschmierten Jogginganzug hatte ich längst wieder vergessen. Am nächsten Morgen legte ich den welken Kopfsalat in das Vogelhäuschen auf dem Balkon und machte mir von den braunen Bananen einen zuckersüßen Milchshake. Ich schaffte es immerhin, den Jogginganzug vom Boden aufzuheben und ihn auf den Rand des Waschbeckens zu legen, während die Schuhe immer noch in der Badewanne standen. Später im Büro erzählte ich meiner Arbeitskollegin lachend die Geschichte mit Frau Müller und den Kondomen. Ja, so ist das mit den guten Vorsätzen. Am Jahresende werden schnell viele Worte gemacht, doch um diese Worte in die Tat umzusetzen, braucht es wohl etwas länger. Vielleicht werde ich es ja auch irgendwann einmal schaffen, gesund zu leben, Sport zu treiben und Frau Müller auf einen Kaffee einzuladen. – Sie wollen wissen, wie mein Vorsatz für das nächste Jahr lautet? „Ich werde niemals mehr gute Vorsätze fassen.“

 
     
     
 
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