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Sturm über dem Land

 
     
 
Noch immer spazierte Wolfgang allein durch den sommerwarmen Sand. Ein um das andere Mal schirmten seine Hände dabei schützend die Augen. So sehr sie sich aber mühten, Renates hellblondes Haar ließ sich selbst in weitester Ferne nicht erblicken.

Dabei hatte sie am Mittag noch fast verschämt genickt, als Wolfgang sie fragte: "Renate, die Semesterferien sind nun zu Ende. Schon morgen früh trägt mich der Zug zurück in die Stadt. Wirst du heute abend noch einmal zum Haff kommen?"

Renate zögerte an diesem Tage erst eine Weile, ehe sie antwortete: "Sie haben Zuhause Verdacht geschöpft, Wolfgang - aber ich werde es trotzdem versuchen." Und als Wolfgang dafür überglücklich ihre Hand ergreifen wollte, da entzog Renate sie ihm diesmal, zum allerersten Mal! Mit ihren hellen Augen schaute sie zu Wolfgang hin und sagte: "Sieh, Wolfgang, sind wir beide nicht dumme Menschenkinder? Als wir uns trafen, wollte ich nicht gegen dieses starke Gefühl ankämpfen, es wäre zwecklos! Ich fühlte so etwas zum ersten Mal! Und noch jetzt - in diesem Augenblick - da komme ich mir vor wie ein Grashalm im Sturm, ohne festen Willen!" Renate schluckte erst einige Male, ehe sie weitersprach. "Ja, Wolfgang, ich werde heute Abend wieder versuchen, zum Haff zu kommen. Ob es mir aber gelingen wird ...?" Renate drehte sich schnell um und verschwand.

Das Haff dehnte sich an diesem frühen Abend in seltsamer Ruhe zwischen den Ufern. Kaum merklich nur kräuselte sich seine Oberfläche, und wie lustlos warf es seine grünlichen Wasser auf den Strand.

Nicht die geringste Luftbewegung verlieh dem windzerzausten Geäst der Kiefernwälder Bewegung. Selbst sein harziger Geruch stand wie auf der Stelle. Es war, als hielte die Welt ihren Atem an ... Sogar das sonst so geschäftige und lautstarke Treiben der bunten Vogelwelt schien völlig verstummt. Über dem Wasser stand dunstig und grau ein bösartiges Schimmern, welches gleich einer milchigfarbenen Sichtblende den Blick in die Ferne versperrte. Nur ein älterer Mann, in seiner derben Kleidung und den knielangen Stiefeln deutlich als Fischer erkennbar, kreuzte schließlich Wolfgangs Weg. Mißmutig blickte der Alte zu ihm herüber. Nahm endlich die kurze Stummelpfeife aus dem bärtigen Gesicht und knurrte: "Das Wetter hält sich nicht mehr lange, junger Herr. Gehen Sie man lieber in den Ort zurück. Sturm und anderes schlimmes Wetter wird es ge- ben ..."

Er ist verrückt, der Alte, so dachte Wolfgang im nachhinein, es ist doch völlig windstill. Wahrscheinlich wollte er sich nur wichtig machen. Außerdem muß Renate bald kommen, sie hat es doch versprochen. Noch ein gutes Stück ging Wolfgang tief in Gedanken versunken den sandigen Weg. Erst als ihm der Wind das erste Mal kurz und heftig durch die Haare fuhr, riß es ihn aus seiner Gedankenwelt. Fern über dem Haff begann das Wasser schon weißlich zu schäumen, und aus graugrüner Tiefe gurgelte es drohend und fordernd. Eilig machte sich Wolfgang zurück auf den Heimweg
.

Nur noch wenige Schritte fehlten bis zu seinem Quartier, als die ganze Gewalt des Wetters ihn rüttelte und schüttelte. Wie von Geisterhand war der Himmel urplötzlich verdunkelt. Sturm zog über das Land. Bald tobte es in den oberen Luftschichten, bald fuhr es hernieder und ließ seinen dröhnenden Übermut an Wolfgang aus. Sturzbäche von Wasser fielen von einer Sekunde auf die andere auf ihn herab. Auf sein wildes Klopfen hin stemmten sich beide Wirtsleute zugleich gegen die Haustüre, um deren völliges Aufschlagen mit Macht zu verhindern. "So eine Unvernunft, junger Herr! Haben Sie denn das Wetter nicht kommen sehen?" schrie die Frau.

"Nein!" erwiderte Wolfgang kläglich. Dann zog er sich in sein Zimmer zurück.

Bis weit nach Mitternacht tobte das Wetter. Wolfgang lag schlaflos in seinen Kissen und dachte an Renate. Nicht einmal ein letztes Wiedersehen mit ihr war ihm vergönnt gewesen. Und morgen früh ging sein Zug ...

Auch Renate lag schlaflos in dieser Nacht. Immer wieder mußte sie an die letzte Begegnung mit Wolfgang denken. Ein trockenes Schluchzen erfaßte sie.

In der Nacht war dann plötzlich die Mutter in Renates Zimmer getreten. "Wein doch nicht so laut, Kind. Womöglich wird Vater wach und er fragt nach dem Warum", hatte die Mutter gemahnt. Anschließend hatte sich die Mutter aber auch auf Renates Bettkante gesetzt, ihr über das Haar gestrichen und gefragt: "Morgen früh fährt er ab?" Renate bekam ganz große Augen. "Du weißt, Mutter?" - "Ach Kind ...", sagte die Mutter nur darauf. Schließlich sagte sie aber auch noch: "Nun schlafe. Morgen beginnt ein neuer Tag. Wir werden sehen ...!"

"Wir werden sehen ...!" hatte die Mutter in der Nacht zu Renate gesagt. In der Frühe des nächsten Morgens aber sagte sie: "Mir fehlt allerlei Gewürz für das Mittagessen. Geh rasch zum Kaufmann, Kind."

"Ich soll ... ich soll ...?" - "Ja, ja! Eile nur, Kind!"

Argwöhnisch schaute zwar der Vater von seiner Zeitung auf, sagte aber kein Wort.

Der Weg zum Kaufmann führte direkt an der Bahnstation vorüber. Der Zug wartete schon zischend und rußend auf seine Weiterfahrt. Renate erblickte Wolfgang sogleich in einem der Abteilfenster.

"Wolfgang ...!" Wolfgangs Gesicht zeigte Überraschung und Erleichterung zugleich. "Renate ...!"

Renate stürzte auf ihn zu. "Wolfgang, meine Mutter ... Sie weiß alles." Ein kurzer, schriller Pfiff, dann ruckte und drehte es sich. Renate und Wolfgang waren urplötzlich in schneeweißen Dampf gehüllt. "Wann kommst du wieder, Wolfgang?" rief Renate zu ihm hinauf. "Bald ... bald ... Renate! Gleich nach dem Examen." Eine zeitlang noch vermochte Renate neben dem rollenden Zug herzulaufen. Diese Zeit nutze sie, indem sie Wolfgang zurief: "... und du kannst mir auch ruhig schreiben!"

"Ich kann dir schreiben?" rief Wolfgang ungläubig zurück.

"Schreibe nur, Wolfgang! Schreibe! Mutter fängt sowieso immer alle Briefe ab ...!"

Dann aber wurde der Zug schneller und immer schneller, und Renate war schon ganz außer Atem. Aber sie war auch überglücklich .
 
     
     
 
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