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Vom Buchumschlag lächelt eine mollige, junge Frau in einem bestenfalls als praktisch zu bezeichnenden Pullover. "Ritas Leute - Eine deutsch-russische Familiengeschichte" lautet der Titel des Werkes und erlangt zusammen mit dem Umschlagfoto keinesfalls mein Interesse. Nur widerwillig nehme ich das Buch zur Hand, und sehe vor meinem geistigen Auge eine pummelige Frau in einer kasachischen, öden Plattenbausiedlung in einer tristen Landschaft. Jedoch schon nach den ersten gelesenen Seiten des Buches muß ich feststellen, wozu Vorurteile gut sind: nämlich zu rein gar nichts. Sie verkleinern nur die eigene Welt.
Allerdings ist es eine doch fremde Welt, die sich dem Leser offenbart und die sich übrigens auch die Autorin bei ihren Recherche n erst erschließen mußte. Durch einen Zufall lernte die den Ostdeutschland durch ihre Bücher "Die Brücke nach Tilsit" und "Ostdeutsche Lebensläufe" bekannte Autorin Mitte der 90er Jahre die junge deutsch-russische Studentin Rita kennen, unterhielt sich mit ihr über deren Geburtsort Karaganda in Kasachstan und über deren Familie. Schnell fiel auf, daß auch Rita über ihre deutschen Wurzeln nicht sonderlich informiert war, und so erforschte die Journalistin Lachauer mit Rita im Schlepptau deren Familiengeschichte. Dabei reisten die beiden nach Kasachstan, Sibirien und sogar nach Kanada, um einige in den 30er Jahren dorthin ausgewanderte Verwandte beziehungsweise deren Nachkommen zu treffen.
Ulla Lachauer nimmt sich engagiert des Themas Deutsch-Russen an. Am Beispiel der Familie Pauls zeigt sie, wie ungerechtfertigt das Vorurteil "die hatten wohl einen deutschen Schäferhund" ist - meist zurückzuführen auf Unkenntnis der Geschichte dieser seit 1989 in die Bundesrepublik hinzuziehenden Bevölkerungsgruppe.
Ende des 19. Jahrhunderts zog die Familie Pauls von Westpreußen nach Lysanderhöhe nahe der Wolga. Dort aber fand sie nur kurz ihren Frieden, da die Stalinisten die unliebsamen, zumeist aufgrund fleißiger Arbeit vermögenderen Deutschen 1931 in die kasachische Steppe deportierten, wo sie aus dem Nichts heraus eine Stadt gründen sollten. Dies gelang auch, allerdings ließen Zehntausende dabei ihr Leben. Lange bewahrten die aus deutschen Landen Stammenden ihre Traditionen, hielten zusammen und schafften es so, die harten Jahre gemeinsam zu meistern. Erst Ritas Generation begann sich als Russen zu fühlen, und so war Ritas Freude verhalten, als ihre Familie 1989 nach Deutschland auswanderte. Trotzdem zögerte sie nicht, ihrer Familie zu folgen.
Ulla Lachauer verwebt die Vergangenheit und die Gegenwart einer weit verzweigten Familie. Sensibel befragt sie alte wie junge Mitglieder der Pauls-Sippe, wandert nachdenklich auf den Spuren der Verstorbenen und erzählt so nicht nur die Geschichte der Pauls sondern auch die vieler anderer Deutsch-Russen, die ein ähnliches Schicksal erlitten und nun in der Bundesrepublik hoffen, ein Zuhause zu finden. Betrachtet man allerdings Rita, so hat man den Eindruck, daß es ihr nicht so recht glückt, denn während Ritas in der Sowjetunion lebende Vorfahren trotz aller Widrigkeiten stets wußten, daß sie Deutsche waren, so wandelt Rita zwischen den Welten.
"Ritas Leute" behandelt sehr anschaulich und interessant ein Randthema unserer Gesellschaft. Die Lebensbedingungen von Deutsch-
stämmigen in Rußland und in Kasachstan werden mit Liebe zum Detail geschildert und die Armut und das Sterben des heutigen Karaganda entsetzen den wohlgenährten deutschen Bundesbürger, diesen überfordert Ulla Lachauer allerdings ein wenig. So manches Mal ufern ihre Beschreibungen und Nachforschungen aus, zu weit verzweigt sie sich in den vielen Generationen der Pauls, so daß der Leser die Übersicht verlieren kann und die Gefahr besteht, daß er sich zu langweilen beginnt. Fritz Hegelmann
Ulla Lachauer: "Ritas Leute - Eine deutsch-russische Familiengeschichte", rowohlt, Reinbek 2002, gebunden, mehrere Abb., 432 Seiten, 19,90 Euro |
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