|
Wir erblicken weitere Überreste des alten Gartens meiner Großeltern. Die Nachbarin weiß, wer zu dem Grundstück gehört. Der Mann wohnt in einem alten, hohen Haus hinter dem Garten. Um ihn zu erreichen, müssen wir die Grundstücke fast umrunden.
Ich kann dort auf der Rückseite der Versuchung nicht widerstehen, von hinten schon mal in den Garten zu spähen. So sind Vera meine Übersetzerin und die Nachbarin vorausgegangen zu dem hohen, alten Haus und stehen, als ich ankomme, bereits wieder vor der Tür, zwischen sich den Mann, der nun unseren Garten hat. Der wirkt mit lockerer Hose, Unterhemd und mageren Schultern, unrasiert und ungekämmt, ein bißchen wie von den beiden Frauen überrumpelt. Trotzdem will er uns gern in den Garten führen.
Sein Name ist Anatolij Jefimowitsch Jurow, und trotz Unterhemd und fehlender Rasur macht er sich mit uns auf in Richtung Garten. Auf halbem Weg drehen wir um. Ein Regenschauer treibt uns zum Haus zurück, hinein in den Schutz des Treppenhauses. Hier wollen wir das Ende des Gusses abwarten und nutzen die Gelegenheit zu einem Gespräch.
Vera erzählt Jurow als erstes, daß ich Nachkomme der Familie bin, der dieser Garten gehört hat, und daß ich ihn nun zum ersten Mal betreten möchte. Ich frage Jurow, Vera übersetzt: "Seit wann haben Sie den Garten?" "Mein Vater hat ihn 1946 bekommen. Seit mein Vater tot ist, bearbeite ich ihn." Ich merke Jurow an, daß er nicht ungern erzählt; vielleicht braucht man nur anzutippen, um etwas von ihm zu erfahren. Ich frage: "Erinnern Sie sich noch, wie der Garten 1946 aussah?" "Sicher. Er war noch unzerstört; und schön: zwei Lauben, ein Gartenhaus, Spaliere und Pergolen. Dazu eine Menge Obstbäume und Beerenbüsche. Die Wege waren mit Kies bestreut und die Beete und Rasenflächen mit Steinen eingefaßt. Es herrschte eine große Ordnung." Vera fragt etwas naiv: "Und wer hat die Ordnung zerstört?" "Na, wer schon? Wir! Wir Russen. In der Stadt war damals überhaupt noch viel mehr erhalten als heute, es war das meiste in gutem Zustand. Die Leute sind damals rücksichtslos mit allem umgegangen. Wenn ihnen etwas nicht paßte, haben sie es rausgerissen und sich aus anderen Häusern Sachen geholt, die ihnen besser gefielen. Hier im Haus zum Beispiel, da hatten wir eine Heizung, die wollten wir nicht; da haben wir sie ausgebaut und uns aus einem anderen Haus eine neue geholt. Die paßte aber nicht. Da haben wir beide rausgeschmissen und Öfen eingebaut. Vieles ist kaputtgemacht worden damals!" Jurow ist mit seinem Bericht in Fahrt und erzählt, was ihm die Erinnerung eingibt. "Mir fällt da eine Geschichte ein: Ein paar Russen hatten einen deutschen Kachelofen so überheizt, daß er glühte. Sie nahmen einen Eimer kaltes Wasser und schütteten ihn über den Ofen. Da zersprangen seine Kacheln in tausend Stücke, und der Ofen war nicht mehr zu gebrauchen. Ja, hier in Gerdauen ist viel Schönes zerstört worden. Und wo man Neues gebaut hat, hat es schlechte Qualität." Jurwo hat die Stirn in Falten gelegt und schüttelt zuletzt sogar den Kopf bei dem, was er erzählt, man merkt ihm seine Zerknirschung an.
Die Nachbarin sagt entschuldigend: "Wir waren aber bis Anfang der sechziger Jahre sicher, daß wir hier wieder wegmüssen und die Deutschen zurückkommen." Mir geht dabei durch den Kopf, daß dieser Zeitpunkt tatsächlich eine Bedeutung haben muß, denn ich habe gelesen, und es wurde mir in Gerdauen von mehreren Russen bestätigt, daß große Teile der Stadt bis in die sechziger Jahre ziemlich gut erhalten waren und erst danach der rapide Verfall und der großflächige Abriß begannen. Offensichtlich machten sich die Sowjets erst, als sie sich ihres Besitzes sicher waren, an seine Zerstörung.
Aber wir werden aus dem Thema gerissen durch einen nassen Windstoß, der durchs Haus fegt und uns vom Eingang weg in eine andere Ecke des Flures treibt. Jurow entschuldigt sich, weil er uns nicht in seine Wohnung bittet, aber er sei gerade am Renovieren . Ich frage ihn, wie lange er schon in diesem Haus wohnt.
"Seit 1946. Gleich als unsere Familie nach Gerdauen kam, sind wir hier eingezogen. Ich bin Jahrgang 1928, ich war damals 18. Mein Vater leitete die Schloßmühle hier ganz in der Nähe, da hatte er es nicht weit zur Arbeit. Damals arbeiteten noch viele Deutsche in der Mühle. Als sie später weg mußten, war er dagegen. Denn sie waren so fleißig, daß er nicht auf sie verzichten wollte. 1947 war die Mühle vorübergehend Möbellager, mit Möbeln, die man aus den Häusern geholt hatte. Von denen hat sich mein Vater ein Klavier genommen. Dann hat er uns Klavierunterricht geben lassen, meiner jüngeren Schwester und mir, bei einer deutschen Klavierlehrerin. Die hat uns viel beigebracht, deshalb kann ich heute noch Klavier spielen. Und meine Schwester ist sogar Musiklehrerin geworden. Ich erinnere mich auch noch an den Namen der Klavierlehrerin. Sie hieß Erna."
"Erinnern Sie sich noch an andere Deutsche aus jener Zeit?" "Ja, da war eine Gruppe Jungs, sie mußten als Elektriker arbeiten. Die Namen waren Kurt, Hans, Koska und noch andere. Ich habe auch mal mit ihnen gearbeitet. Ich bin immer gut mit ihnen ausgekommen."
Der Regen hat aufgehört, und wir gehen langsam durch das feuchte Gras, das über den Weg wuchert, in Richtung Garten. Ich will aber noch etwas von damals wissen und frage Jurow, was aus der Schloßmühle wurde. "Nachdem mein Vater aufgehört hatte, kam ein anderer Mühlendirektor. Die Mühle war ja Hauptmühle, das heißt, ihre Erzeugnisse wurden nach Rußland ausgeführt." (Jurow selbst unterscheidet hier Ostdeutschland und Rußland.) "Als der neue Mühlendirektor 1980 starb, fand man keinen Nachfolger für ihn. Da hat man die Mühle geschlossen. Jetzt ist sie Ruine."
Der Zugang zum Garten ist stark gesichert, über dem Lattenzaun hat Jurow ein Gestell mit Maschendraht angebracht, das Tor ist durch ein Vorhängeschloß versperrt. Jurow läßt uns eintreten. Unser Weg durch den Garten ist zum guten Teil ein Waten durch Wildwuchs. Ich zähle fünf erhalten gebliebene Apfelbäume, Jurow zeigt zusätzlich auf die Reste zweier Pflaumenbäume. Neue Bäume sind nicht gepflanzt. Sonst gibt es ein großes Stück Acker mit dem landesüblichen Halbe-halbe-Verhältnis von Kartoffeln und Unkraut. Jurow zeigt auf eine Kürbisstaude: Dort war ein Brunnen, den er mal zugeschüttet hat.
Ein neuer Regenschauer zwingt uns, Zuflucht unter dem größten der alten Apfelbäume zu suchen. Sein dichtes Blätterdach wölbt sich fast bis aufs Gras. Hier hat sich Jurow einen Sitzplatz eingerichtet mit einem Tisch und einem schmalen Bänkchen, Tisch und Bank sind mit Äpfeln belegt. Und während wir so dastehen in dem, was mal der Garten meiner Großeltern war, fängt dieser Mann in unserem Garten auf seine gutartige, redselige Weise zu schwärmen an von den Äpfeln, die er erntet. Unter allen guten Äpfeln, sagt er schließlich, ragen die eines Baumes hervor, nämlich desjenigen, unter dem wir gerade stehen. Seine Früchte sind groß und leuchtend goldgelb, und wenn man sie nach dem Pflücken noch eine Weile liegen läßt, werden sie immer wohlschmeckender und bekommen am Ende ein ganz unvergleichliches Aroma. Als er dieses schildert, passiert es, daß mir trotz des schützenden Blätterdaches die Augen feucht werden, denn er schwärmt von den Äpfeln, in einer anderen Sprache zwar, doch mit den gleichen Worten, mit denen, sehr fern von hier, meine Mutter von den Früchten dieses Paradiesgartens ihrer Kindheit erzählte. "Aber auch die Größe der Äpfel hat im Laufe der Jahre abgenommen", sagt Jurow; und als der Regen aufhört, legt er uns zum Abschied jedem zwei Äpfel in die Hand.
Die Schwester Jurows können wir erst am nächsten Nachmittag aufsuchen. Nachdem ihr Bruder uns ihre Adresse genannt hat, hat Vera uns telefonisch angemeldet. Aber als wir ankommen, bleibt uns nicht mehr viel Zeit, denn der Fahrer, der mich nach Königsberg zurückbringen soll, hat mir eben erst verraten, daß er nachtblind ist und die Sonne ist im Sinken begriffen.
Rimma Jefimowna Sorokina, die Schwester des Mannes in unserem Garten, wohnt an einer neuen Straße am Rande Gerdauens. Das Mehrfamilienhaus ist kaum älter als zehn Jahre, was man ihm nicht ansieht. Besonders der Beton der Eingangsstufen ist so abgetreten, daß sein Stahlgeflecht wie ein Fußabtreter rausragt. Im Treppenhaus stehen überall vor den Wohnungstüren die Gummistiefel, die in diesen Randbezirken Gerdauens wegen der unbefestigten Wege unerläßlich sind.
Frau Sorokina erwartet uns. Im Gegensatz zum sehr kargen Treppenhaus macht ihre Wohnung einen gemütlichen Eindruck. Man sieht, daß sie mit der Zwangslage konfrontiert war, die Gegenstände einer großen Familie auf beschränktem Raum zu verstauen. Auch sie selbst bietet einen ansprechenden Anblick; mit ihrem braunen, glänzenden Haar und ihren geröteten Lippen läßt sich ihr Alter schwer schätzen, und man weiß nicht, ob die beiden jungen Männer, die in der Wohnung offensichtlich zu Hause sind, ihre Söhne oder ihre Enkel sind.
Wir nehmen auf dem Sofa im Wohnzimmer Platz, Frau Sorokina ist auf unseren Besuch vorbereitet. Sie hat nach Veras Telefonanruf ihr Fotoalbum durchgesehen und zwei Fotos bereitgelegt, die einen kleinen Eindruck vom Gerdauen der Nachkriegszeit vermitteln können. Es sind Familienfotos der fünfziger Jahre, auf dem Marktplatz aufgenommen. Sie reicht sie mir zur Ansicht. Die ganze Familie ist abgebildet. Ich erkenne ihre Mutter sofort, eine milde Matrone vom gleichen bürgerlichen Typus wie die Tochter. Der Vater fällt aus dem Rahmen. Mit seiner wollenen Schirmmütze und seinem groben, schlauen Gesicht wirkt er wie die Figur aus einem sowjetischen Proletarierfilm. Er trägt auf dem älteren Foto eine dunkle Jacke, die sich, wenn ich genau hinsehe, als alter Damenmantel entpuppt. Er trägt ihn wahrscheinlich aus Unwissenheit über seine Bestimmung; vielleicht hat der Mantel zu den Sachen gehört, die aus den deutschen Häusern geholt worden waren zum Weitertransport nach Rußland; und in dem Jahr, als Teile davon in der von ihm geleiteten Schloßmühle lagerten, stach ihm der Mantel wegen seines strengen Schicks ins Auge, da hat er ihn für sich abgezweigt. Auch Jurow junior, der Mann in unserem Garten, ist auf dem Foto zu erkennen, er blickt glatt rasiert und adrett mit versonnenem Lächeln in die Kamera.
Mich interessieren vor allem die Bildhintergründe. Auf dem Foto vom Ende der fünfziger Jahre vom fahnengeschmückten Marktplatz mit Leninstatue ist das eingeebnete Grundstück der Kreissparkasse zu sehen und der unversehrte Kirchturm. Auf dem Foto vom Anfang der fünfziger Jahre ragen in den Gerdauener Himmel wie steinerne Zackenreihen die Ruine des Hotels Reich und die ausgebrannten Geschäftshäuser von Hildebrandt, Oddoy und Zink; als weißer Klotz steht der Sockel des Denkmals von 1870/71. Frau Sorokina will mir die Fotos zur Anfertigung von Reproduktionen überlassen, und wir besprechen die am wenigsten unsichere Möglichkeit der Rücksendung.
Da unsere Gastgeberin weiß, daß ich bald fahren muß, kommt sie ohne große Überleitung auf das, was es sie drängt, mir zu erzählen. Sie berichtet von der Frau, die ihr Leben entscheidend geprägt hat, deren Wirken zur Folge hatte, daß sie schließlich Musik studierte und bis heute als Musiklehrerin arbeitet. Es ist die Geschichte ihrer deutschen Klavierlehrerin.
Was sie mir erzählt, ist folgendes: Die Klavierlehrerin stammte aus Berlin, und dort wohnte sie bis gegen Ende des Krieges. Zu jener Zeit erhielt sie ein Telegramm, in dem man ihr mitteilte, daß ihr Mann als Soldat verwundet im Gerdauener Krankenhaus lag und nicht mehr zu retten war. Also reiste sie mit ihren beiden Söhnen an das Sterbebett ihres Mannes. Die Front rückte näher, überrollte Gerdauen, und die Frau saß mit ihren Kindern in der von den Sowjets eingenommenen Stadt gefangen. Sie teilte das Schicksal der anderen Deutschen. 1947, in dem Jahr, in dem die Mühle als Möbellager diente, nahm sich der Mühlenleiter ein Klavier für seine Familie. Um den Kindern Unterricht zu geben, ließ er die deutsche Klavierlehrerin kommen. Sie unterrichtete von da an die Kinder und erhielt dafür Essen. Sie wohnte zu jener Zeit in einer Straße am Banktinsee.
"Viel mehr weiß ich über sie nicht", sagt Frau Sorokina, "nur noch, daß sie Erna hieß und damals 36 Jahre alt war. Sie wird heute wohl nicht mehr leben. Aber ihre Söhne waren damals 16 und 17 Jahre alt, die könnten noch am Leben sein, doch sie kamen ja alle nicht aus Gerdauen, erst der Krieg hatte sie hierher verschlagen. Ich hatte damals aber auch eine Freundin, die stammte wirklich aus Gerdauen. Sie hieß Marta. Sie wohnte mit ihrer Mutter in der Kanalstraße, und die Mutter arbeitete als Schneiderin. Marta war Jahrgang 1937, wir verstanden uns gut. Marta nannte mich nicht Rimma, sondern ,Rina. Sie lebte in Gerdauen bis 1948, dann mußte sie weg wie alle Deutschen." Marta, wo bist du? ()
|
|