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Mit der Krise leben

 
     
 
Seit dem 17. August 1998 ist auch das nördliche Ostdeutschland von der russischen Wirtschafts- und Finanzkrise getroffen. Aber wie lebt es sich in und mit der Krise? Wer heute zum ersten Mal nach Königsberg kommt und das Treiben in den Geschäften auf dem großen Zentralmarkt und den nicht immer billigen Restaurants sieht, der mag meinen, eine Krise habe gar nicht stattgefunden. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Betroffen ist insbesondere die einfache Bevölkerung
: Angestellte in den Verwaltungen, Militärs, Lehrer, Ärzte und die vielen Arbeitslosen und sozial Schwachen. Vor allem diejenigen haben mit der materiellen Not zu kämpfen, die aus sozialen oder gesundheitlichen Gründen in irgendeiner Sozialeinrichtung leben müssen. Sie wissen oft nicht mehr ein noch aus. Außenstehende dagegen wissen in der Regel wenig über die Zustände in Krankenhäusern, Kinderheimen, Kindergärten, Sanatorien oder Altersheimen. Das berichtet in loser Folge über die Situation derer, die Not leiden, aber auch über diejenigen, die die Not lindern und helfen.

Zum Beispiel Neukuhren an der Samlandküste. Hier gibt es ein Krankenhaus, das zuständig ist für das gesamte Gebiet von Palmnicken bis Neukuhren. Wer erstmals dieses Krankenhaus durch den Haupteingang, der als solcher nicht zu erkennen ist, betritt, der vermag schon auf den ersten Metern kaum zu glauben, daß er sich tatsächlich in einem Hospital befindet. Auf dem Weg zum Büro des Chefarztes Michail Schischlow weicht man permanent irgendwelchen etwa 50 Zentimeter tiefen Löchern im Fußboden aus. Zerschlissene Wartestühle, marode und herunterhängende Elektrokabel ergänzen das Bild. Das Büro des Chefarztes ist zwar groß, aber er selbst sagt mit einem leicht verzweifeltem Lächeln, daß die Arbeit in seinem Büro durchaus nicht ungefährlich sei. An der Decke reiht sich Wasserfleck an Wasserfleck, so daß Dr. Schischlow befürchtet, irgendwann komme wohl die ganze Decke herunter.

Der immer freundliche Chefarzt führt uns in die innere Abteilung. Die Zustände dort sind für mitteleuropäische Verhältnisse einfach schrecklich. Der Putz in den Krankenzimmern fällt von Wänden und Decken. Für die etwa fünfzig Patienten der inneren Station gibt es eine einzige Toilette und eine Badewanne. Beide scheinen dem westlichen Betrachter allerdings für ihre Zwecke eher ungeeignet; sie sind von Rost fast zerfressen. Patienten liegen in Betten auf dem Flur, weil der Platz in den Krankenzimmern nicht immer ausreicht.

Der ganze Stolz des Krankenhauses ist die im vergangenen Jahr renovierte Chirurgie. Ein Bauunternehmer aus Rauschen hatte die gesamte Station auf seine und die Kosten des Neukuhrener Hafens renoviert. Seit dieser Zeit verfügt man auch über einen modernen OP. Stolz ist man auch auf das einzige "Luxuszimmer" im ganzen Krankenhaus. Luxus heißt hier, daß dieses Zimmer über ein eigenes Bad und eigene Toilette verfügt und dort auch nur zwei Patienten untergebracht werden. Die Unterkunft hier ist natürlich nicht kostenlos; es ist das einzige Zimmer, in dem auch Privatpatienten liegen dürfen.

Der Eindruck, den wiederum die Gynäkologie und die Säuglings- sowie die Intensivstation hinterlassen, ist katastrophal. Vor allem fehlt es an vielen der notwendigsten medizinischen Geräte. Am Willen und der Qualität der Ärzte fehlt es offenkundig nicht. Aber es sind einfach nicht die finanziellen Mittel vorhanden, um auch nur die wichtigsten Utensilien zu beschaffen. Schließlich machen es nicht funktionierende Kühlschränke unmöglich, eine vernünftige Lagerhaltung für die Essenszubereitung für die etwa 200 Patienten zu gewährleisten.

Doch es gibt auch Lichtblicke. Seit fast zwei Jahren hilft der Duisburger Verein "Hilfe für Königsberg e.V." (H. Salmagne, Eichenstr. 28, 47228 Duisburg, Tel.: 0203 / 669 26 17) dem Krankenhaus mit zahlreichen Hilfslieferungen. So konnte das ganze Haus mit modernen Krankenbetten ausgestattet werden, zahlreiche Apparaturen wurden gespendet und auch Lebensmittel und Bekleidung fanden einen dankbaren Abnehmer.

Ebenso engagieren sich hier, gleichfalls seit zwei Jahren, Hans-Heinrich Vögele und seine Frau Gertrud vom Deutschen Roten Kreuz im Emmendingen (Neudorfstr. 12, 79312 Emmendingen, Tel.: 07641 / 42726). Vögele brachte unter anderem im Herbst des vergangenen Jahres einen Krankenwagen aus Süddeutschland nach Neukuhren. In diesem Jahr will Vögele mit den bei ihm eingegangenen Geldspenden die Kinderstation des Krankenhauses renovieren lassen.

Ein anderes Beispiel. Ähnlich, wenn nicht noch schlimmer, sieht es im Kindertuberkulosesanatorium in Rauschen aus. Im Sanatorium leben ständig zwischen 60 und 90 tuberkulosekranke Kinder aus dem ganzen nördlichen Ostdeutschland. Durchschnittlich bleiben die Kinder ein Jahr in dieser Einrichtung. Sie leben in zwei Häusern, die nach gängigen westlichen Vorstellungen längst abbruchreif sind. Ein weiteres Wohnhaus wurde bereits vor sieben Jahren von den russischen Behörden selbst geschlossen, weil es einsturzgefährdet war. Jedem Kind steht inklusive Bett eine durchschnittliche Wohnfläche von 1,7 Quadratmetern zur Verfügung. Wie in fast allen Sozialeinrichtungen fehlt in den Zimmern der Platz für etwas Eigenes, Persönliches – und sei es auch nur ein kleines Nachtschränkchen, in dem die Kinder Kleinigkeiten aufbewahren könnten. Unvorstellbar, wie selbst in den kleinsten Dachverschlägen noch Kinderbettchen untergebracht werden konnten.

Die Mitarbeiter des Sanatoriums sind selber kaum in der Lage, etwas zur Verbesserung der Situation beizutragen. Etwa 70 Prozent der Mitarbeiter haben bereits das Rentenalter erreicht, arbeiten aber trotzdem weiter, weil die Rente zum Leben nicht reicht. Drei Küchenhilfen arbeiten bereits über 50 Jahre im Hause. Es herrscht ständig Mangel an Lebensmitteln – die gesetzlich vorgeschriebene Sonderkost für tuberkulosekranke Kinder haben diese schon seit Jahren nicht mehr bekommen. Ein ebenso großer Mangel herrscht an Spritzen und anderem medizinischem Verbrauchsmaterial wie beispielsweise Röntgenfilmen.

Der einzige westliche Verein, der sich hier allerdings bereits seit über vier Jahren engagiert, ist der oben genannte Duisburger Verein "Hilfe für Königsberg e.V." Angefangen hatte man mit Lieferungen von Bekleidung und Spielzeug. Mittlerweile haben die Duisburger dem Kindersanatorium zwei Dusch-Container und einen Container als Waschhaus geliefert, da die sanitären Bedingungen jeder Beschreibung spotten. Außerdem konnte der Verein aus Westdeutschland mit erheblichem finanziellen Aufwand, der nur dank verschiedener Großspender möglich war, mittlerweile die Küche, den Speisesaal und die Toiletten in den Wohnhäusern von örtlichen Unternehmern renovieren lassen. Doch fehlt es noch an vielem. Vor allem müßten als nächstes in den Wohnhäusern der Kinder menschliche Bedingungen geschaffen werden. Ein Anfang soll in diesem Sommer gemacht werden. BI

 
     
     
 
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