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800 Container und zwei Passagiere

 
     
 
Wissen Sie schon, wie lange wir Liegezeit in Memel haben werden?“ fragt die ehemalige Künstlerin Ursula Thielemann, die es gar nicht abwarten kann, mit ihrem Ehemann nach vier Jahren Ostdeutschland wieder zu sehen. „Memel?“ Der Kapitän zieht erstaunt die Augenbrauen hoch. „Memel sagt hier niemand. Sie meinen sicher Klaipeda.“ Der Kapitän des 11000- Tonnen- Containerschiffes „Andrea“ sieht gar nicht aus wie ein Kapitän. Keine Uniform, keine Streifen am Ärmel
. Lang und schlaksig steht er da im kanadischen Holzfällerhemd und abgewetzten Jeans. „Den Namen Memel kennt wohl nur noch mein Opa“, sagt er freundlich lächelnd. „Nach zirka 21 Stunden Fahrzeit ab Kiel-Holtenau und wenn nichts dazwischenkommt, müßten wir Klaipeda gegen 2 Uhr nachts erreichen.“ Das Be- und Entladen am Bu- Kai, wie die Seeleute sagen, wenn sie den Burchard-Kai im Hamburger Hafen meinen, ist ein faszinierendes Schauspiel. Container um Container hieven die riesigen Portalkräne in den Bauch des Schiffes. Der Container-Pilot sitzt unsichtbar in schwindelerregender Höhe und muß die oftmals bis zu 40 Tonnen schweren Container zentimetergenau dirigieren. Kein Job für Menschen mit Grobmotorik und Höhenangst. Mehr als 800 dieser Blechkisten kann die „Andrea“ aufnehmen. Verschwindend wenig gegen das größte, derzeit im Bau befindliche Schiff in einer Kopenhagener Reederei, das 12000 Container befördern wird. Am Nachmittag erreicht die „Andrea“ den Eingang zum Nord-Ostsee- Kanal bei Brunsbüttel. Etwa 20 Stunden Umweg würde der Weg um Skagen bedeuten. An der Schleuse muß der Kapitän das Steuer einem Lotsen und einem Steuerer überlassen, die von nun an das Schiff bis Kiel-Holtenau in etwa zehn Stunden und genau 98,637 Kilometer durch die „Lebensader Schleswig-Holsteins“ mit seinen zahlreichen Kurven und reichlich Gegenverkehr manövrieren. Immer mehr und zunehmend größere Containerschiffe passieren den Kanal, dessen Erweiterung die Bundesregierung bereits genehmigt hat. 

Der Blick von der Brücke aus etwa 30 Metern Höhe ist atemberaubend. Über 800 Container schiebt die „Andrea“ durch eine idyllische Flußlandschaft vor sich her, in der plötzlich die Decksaufbauten eines Ozeanriesen auftauchen. Rechts und links des Kanals die beschauliche Ostholsteiner Hügellandschaft, verträumte Dörfer mit Reetdachhäusern, die von kleinen Personenund Fahrzeugfähren mit Namen „Pillau“, „Stolpmünde“, „Memel“ oder „Küstrin“ miteinander verbunden werden. Unermüdlich stampft die „Andrea“ nach Passieren der Kieler Schleuse mit rund 17 Knoten durch die Ostsee und legt planmäßig um 2 Uhr in der Früh nach 21 Stunden Fahrzeit im Hafen von Memel an. Unmittelbar nachdem das Schiff vertäut und die Motoren ausgeschaltet sind, beginnt der Hafenbetrieb. Portalkräne werden in Position gebracht, Transporter zum Abtransport der Container bereitgestellt, Rufe, Schreie, das unüberhörbare Klingeln, wenn sich die Kräne bewegen. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Container an Container stapelt sich auf dem Hafengelände, über dessen Inhalt auch der Kapitän nur wenig weiß. „Vielleicht Elektronik, Möbel, Kühlschränke, ein paar Kisten aus China, mehr oder weniger anonyme Waren, deren Verladung von einem Computer berechnet wird“, sagt der Alte, wie ihn die Besatzung untereinander nennt. Beim gemeinsamen Frühstück um 8 Uhr in der Messe mit Kapitän, Chief Ing. und den zwei nautischen Offizieren wird schon wieder die Abfahrtszeit besprochen. Groß ist die Enttäuschung, nicht an Land zu können, war das Ehepaar doch gespannt zu erfahren, was sich seit dem letzten Besuch vor vier Jahren und durch Litauens EU-Beitritt verändert hat. Ein riesiges Einkaufszentrum mit Namen „Akropolis“ soll in Litauens Hauptstadt Wilna entstanden sein. Mehr kann der Kapitän seinen mitfahrenden Gästen nicht sagen. Er selbst hatte noch nie Gelegenheit, Memel oder die Nehrung zu erkunden. Frachter sind reine Arbeitsschiffe. Ankunfts- und Abfahrtszeiten unterliegen ständigen Veränderungen, denen sich Mannschaft und Passagiere unterordnen müssen. In der knapp bemessenen Freizeit, die der Besatzung bleibt, wird meist der dringend benötigte Schlaf nachgeholt. 

Vom Schiffsdeck aus kann man außer einer Molenbaustelle und ein paar neuen Hochhäusern in Hafennähe nichts entdecken. Wie beim letzten Besuch vor vier Jahren macht der nördlichste eisfreie Ostseehafen auf die beiden Passagiere einen etwas verschlafenen Eindruck. Ein wenig Glanz bringen das Kreuzfahrtschiff „Marco Polo“ sowie das Flußschiff „Mecklenburg“, das dreimal wöchentlich Schwarzort und Nidden anfährt, in das Hafenbecken. Am frühen Vormittag verläßt die „Andrea“ den Hafen von Memel. 16 Stunden Fahrzeit bis Riga liegen vor der Besatzung und den Passagieren. Ein strahlend blauer Himmel wölbt sich über der Ostsee. Freigiebig scheint die Sonne bis weit nach 21 Uhr und taucht das Meer in ein warmes Licht. Der längste Tag des Jahres ist nicht mehr weit, und bis Mitternacht ist es fast taghell. Das veränderte Motorengeräusch irgendwann frühmorgens signalisiert Kurswechsel. Aus dem Kajütenfenster sieht man kurz darauf die Hafensilhouette der ehemals von Bremer Kaufleuten gegründeten lettischen Hansestadt Riga. Holz, Kohle, verschiedene Metalle, Mineraldünger, Chemiegüter und Nahrungsmittel werden hier umgeschlagen. Zwölf Stunden Be- und Entladezeit der „Andrea“ versprechen einen ausgiebigen Landgang. Der Agent nimmt das Ehepaar in seinem Fahrzeug bis zum Ausgang des Hafengeländes mit, und nach etwa 30 Minuten Fahrzeit ist es per Taxi in der Altstadt der lettischen Hauptstadt, die Unesco-Weltkulturerbe ist. Das historische Zentrum wird von den mittelalterlichen Bauten aus der Hanse- und Ordenszeit geprägt. Auf dem Rathausplatz steht - unübersehbar - die Symbolfigur der Hansestadt Bremen für Rechte und Freiheit, der „Roland“. Prächtig anzusehen sind die zahlreichen historischen Gassen, der Dom und die Petrikirche, das Rigaer Schloß, die Große und die Kleine Gilde und das Schwarzhäupterhaus. Auch Teile der alten Stadtmauer ziehen sich durch die Altstadt. Zahlreiche Restaurants und Straßencafés vermitteln ein fast südländisches Flair. In den vielen Souvenirläden wird neben kleinen Holzarbeiten hauptsächlich Bernstein angeboten. Bis heute ist Riga offensichtlich geblieben, was es Jahrhunderte war: der zentrale Handelsplatz Lettlands und eine pulsierende Metropole. Per Handy erreicht die beiden die Nachricht des Kapitäns, daß die „Andrea“ zwei Stunden früher als geplant ablegen wird. Nach 36 Stunden unterbrechungsfreier Fahrt über die Ostsee und insgesamt sieben Tagen Reisezeit legt die „Andrea“ früh morgens um 6.45 Uhr wieder am Burchard-Kai in Hamburg an.
 
     
     
 
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